Chopin, Fryderyk
Ballades op. 23, 38, 47, 52 / Impromptus / Préludes op. 28, 45
Neue Kritische Gesamtausgabe, Urtext
Taubenblau, leuchtend rot oder hellgrün? Wer nach Urtextausgaben der Klavierwerke von Fryderyk Chopin sucht, findet eine reiche Auswahl vor. Die Quellenlage dieser Werke ist kompliziert, aber weitgehend geklärt. Neben den Autografen existieren in den meisten Fällen drei parallel erschienene Erstausgaben, da Chopin die Rechte für Frankreich, Deutschland und England separat vergeben hat. Dazu kommen zahlreiche handschriftliche Eintragungen Chopins in die Notenausgaben seiner Schüler. Allein schon aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass es keinen eindeutigen Urtext geben kann. Um so spannender ist die Frage, wie die verschiedenen Herausgeber(teams) die einzelnen Quellen gewichten und in welcher Weise sie mögliche Varianten präsentieren.
Für die Neue Kritische Gesamtausgabe der Edition Peters haben sich mehrere profunde Kenner der Materie zusammengetan. Herausgeber der hier besprochenen Bände sind Jean-Jacques Eigeldinger (Préludes), Jim Samson (Balladen) sowie Christophe Grabowski und John Irving (Impromptus). Während die durchweg informativen und gut geschriebenen Vorworte in drei Sprachen (englisch, französisch, deutsch) abgedruckt wurden, liegen die in allen Bänden identischen „Notes on editorial method and practice“ (Bemerkungen zur editorischen Vorgehensweise und Praxis) ebenso wie die Kritischen Kommentare leider nur auf Englisch vor.
Die für die pianistische Praxis bedeutsamsten Entscheidungen des Herausgeberteams sind:
1. Die Ausgaben enthalten nur die aus den Quellen belegbaren Fingersätze. Chopins sehr spärliche in den gedruckten Erstausgaben enthaltenen Fingersätze sind in normaler Schrift wiedergegeben, die etwas zahlreicheren aus den Schülerexemplaren kursiv.
2. Häufiger als in vergleichbaren Ausgaben stehen alternative Lesarten in kleinerem Druck direkt über oder unter den Notentexten. Dies erleichtert es, an Stellen mit unklarer Quellenlage eine eigene Entscheidung zu treffen.
3. Besondere Sorgfalt wurde auf die Unterscheidung zwischen normalen und „langen“ Akzenten verwendet. Letztere finden sich zahlreich in unterschiedlicher Ausdehnung in den handschriftlichen Quellen und sind sehr leicht mit normalen Akzenten einerseits und Decrescendo-Gabeln andererseits zu verwechseln, obwohl sie eine andere Bedeutung haben. Nach den Worten der Herausgeber drücken sie ein Aufwallen der Empfindung („surge“) aus, das je nach Kontext unterschiedlich umgesetzt werden kann. Diese Differenzierung lässt viele Details in neuem Licht erscheinen.
Durch diese hervorragende Neuausgabe hat die Farbe hellgrün für mich wesentlich an Attraktivität gewonnen.
Sigrid Naumann