Vonderau-Prütz, Cornelius

Bartóks Erbe(n)

Über die neuere ungarische Klaviermusik für Kinder

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 2/2017 , Seite 32

Wer die Musik des 20. Jahrhunderts in den Klavierunterricht einbeziehen will, sollte frühzeitig damit beginnen. Und wer entsprechende Litera­tur sucht, stößt schnell auf Béla Bartók, der sich wie kein anderer Komponist seiner Zeit intensiv mit diesem Thema beschäftigt und ein ambitioniertes Klavierwerk hinterlassen hat, vieles davon für Kinder in der Unterstufe geeignet. Musi­kali­sche Meilensteine jedoch versperren manchmal den Blick auf anderes.

Selbst in Fachkreisen ist die Meinung verbreitet, es gäbe nach Bartók zu wenige und kaum nennenswerte Kompositionen, die für AnfängerInnen geeignet seien.1 Zwar entziehen sich in der Tat viele neuere, bedeutende Klavierwerke aufgrund ihrer hohen technischen Anforderungen einem pädagogischen Zugriff. Genauere Recherchen ergeben jedoch, dass sich daneben und zunehmend seit den 1950er Jahren international ein äußerst umfangreiches, für Kinder spielbares Unterstufenrepertoire entwickelt hat, in dem sich Aspekte der Neuen Musik in vielfältiger Weise spiegeln.2 Nur ist diese Literatur – zumindest hierzulande – wenig beachtet und publik gemacht worden.3
Wenig bekannt dürfte demnach auch die für Kinder geeignete, neuere Klavierliteratur aus Ungarn sein. Hier sind auffallend viele Komponisten mit Beiträgen für den Unterricht hervorgetreten, was sich teilweise durch national bedingte Besonderheiten erklären lässt. So hat etwa die enge Zusammenarbeit von FachpädagogInnen und KomponistInnen, die sich infolge einer spezifischen Musikerziehungspolitik herausbildete, zur Produktion vieler neuer Stücke angeregt.4 Eine wichtige Rolle spielt ebenso die Volksmusik, deren kulturtragende Kraft immer wieder betont wurde und Komponisten veranlasst hat – gleichsam als nationale Aufgabe verstanden –, Folklore-Material für den Klavierunterricht nutzbar zu machen.5 Nicht zuletzt müssen Bartók und Kodály genannt werden: Als große kompositorische und pädagogische Vorbilder übten sie einen prägenden Einfluss auf die folgenden Generationen aus.

Post-Bartók-Stil

Erwähnt werden sollen zunächst drei Werke, die noch in zeitlicher Nähe zu Bartóks Musik stehen und durch ihre speziellen Konzeptionen herausragen. 1946 komponierte Sándor Veress Fingerlarks (Edition Cserépfalvi 1947): ein Zyklus von 77 Klavierstücken, in denen sich, systematisch gegliedert, klaviertechnische und musikalische Aspekte gegenseitig durchdringen. Wie Bartók geht auch Veress vom authentischen Volkslied aus und verarbeitet dessen motivisches Material meist in polyfoner Weise mit zeitgenössischen Kompositionsmitteln.6
Nicht so umfangreich und formalisiert, aber durchaus von instruktivem Wert sind zwei Werke von Zoltán Kodály aus dem Jahr 1945: Children’s Dances (Boosey & Hawkes 1947), die in ihrer Satzanlage an Bartóks Für Kinder erinnern, und 24 Little Canons on the Black Keys (Boosey & Hawkes 1957). Ausgangspunkt bei beiden ist die konsequente Mate­rialbeschränkung, hier die Verwendung der pentatonischen Skala auf den schwarzen Tas­ten. Die Auseinandersetzung mit der Volksmusik, wie sie sich in den genannten Kompositionen feststellen lässt, ist allgemein – sei es in Form der Bearbeitung oder in freier Erfindung – ein Charakteristikum der unga­rischen Klaviermusik für Kinder weit über die Jahrhundertmitte hinaus.

1 vgl. Fritz Emonts: „Neue Aspekte im Klavierunterricht“, in: Die Musikschule, Band 4: Der Instrumentalunterricht, Mainz 1975, S. 76-85, hier: S. 83; Hans-Joachim Vetter: „Musik unseres Jahrhunderts und die Musikpädagogik“, in: Peter Hoch (Hg.): Neue Musik und Pädagogik, Trossingen 1985, S. 36 ff.
2 Dies hat der Autor in seiner Dissertation Klaviermusik für Kinder im 20. Jahrhundert. Studien zur Kompositions­praxis seit Bartók (Berlin 1997, unveröffentlicht) anhand der Analyse entsprechender Werke von mehr als 450 Komponisten nachgewiesen.
3 Nützliche Literaturhinweise und -besprechungen finden sich immerhin in folgenden Publikationen: Alice ­Canaday: Contemporary music & the pianist, Port Washington 1974; Alexander L. Krygger: Neue Klaviermusik, hg. v.on der Musikabteilung der Amerika-Gedenk­bib­liothek Berlin u. a., Berlin 1983; Lehrplan Klavier, hg.
vom Verband deutscher Musikschulen e. V., Regensburg 1990; Ellen R. Thompson: Teaching and understanding contemporary piano music, San Diego 1976; Klaus Wolters: Handbuch der Klavierliteratur zu zwei Händen, ­Zürich 1985.
4 vgl. Vera Irsai u. a.: „Musikunterricht in der Unterstufe“, in: Sándor Fryges (Hg.): Musikerziehung in Ungarn, Stuttgart 1969, S. 216 f.
5 vgl. Pál Jardanyi: „Volksmusik und Musikerziehung“, in: Musikerziehung in Ungarn, S. 13 ff.
6 vgl. Melinda Károlyi Berlász: „Über die Erneuerung der Instrumentalpädagogik in Ungarn 1932-1947“, in: Schweizer Musikzeitung, 122. Jg., 1982, S. 271 f.

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