Herbst, Anna

(Be-)greifbare Noten – bewegte Töne

Das innere Hören im Klavierunterricht mit AnfängerInnen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2015 , Seite 18

“Singen möchte ich nicht” – diesen Satz hat wahrscheinlich jede Klavierlehrerin schon einmal gehört. Manches Kind hat Angst, die Töne nicht richtig zu treffen, und spürt keine innere Verbindung zu ihnen. Dem nachzugeben und das Kind nicht mehr zum Singen zu motivieren, wäre fahrlässig, da das Singen das innere Hören entwickelt und deshalb zusammen mit der Gehörbildung in den Instrumentalunterricht mit Anfängern integriert werden soll.

Beata Ziegler, Klavierpädagogin und Autorin der Schule Das innere Hören, weist auf den Zusammenhang hin zwischen innerem Hören und Klavieranschlag. Beate Ziegler beginnt bereits mit dem Spielen des ersten Tons, das Gehör zu bilden. Die Hörvorstellung wird zusammen mit der Tonbildung am Klavier entwickelt, für die man sich am ge­sungenen Ton orientiert. Danach wird das Gehör beim ­Spielen von Tonverbindungen und Akkorden ­weitergebildet. Insbesondere den Tonverbin­dungen misst sie große Bedeutung bei, denn „das innere Hören verträgt keine Spaltung“.1
Die direkte Umsetzung einer Tonverbindung ins Motorische ist beim Legato-Anschlag gegeben. Nach Ziegler soll dieser Klavieranschlag stets mit der „richtigen Verbindung der Fingerkuppen mit der Körpermitte“ hervorgebracht werden.2 Das innere Hören wird dabei mittels räumlicher Wahrnehmung des Körpers „wachgerufen“. So wird die Körpermitte zu einem „Ich-Punkt“3 abstrahiert, wenn diese mit dem Anschlagspunkt auf der Taste korrespondiert und mit der sich im Raum ausbreitenden Tonschwingung assoziativ verknüpft wird. In diesem Fall scheint es, als würde man mit dem Ton zusammen schweben, man fühlt sich leicht und der „Ton wird lebendig“. Er wird zu einem „Klang-Körper“ und zur inneren Stimme zugleich.
Je genauer man den gespielten Tönen zuhört, umso intensiver horcht man in sich hinein. Der erklingende Raum wird dabei imaginär, er wird, wie Ernst Kurth ihn definiert, zu einem vorgestellten „musikalischen Raum“. In diesem Raum arbeitet das innere Hören als ein „räumliches Hören“. Die typischen Befindlichkeiten bei solchem Hören sind geistige Ausgeglichenheit und körperliches Ruhe­empfinden. So auch beim Lernen: Ist das Kind ruhig und horcht in sich hinein, arbeitet bereits sein „geistiges Ohr“.4 Anderenfalls sollte man das innere Hören durch eine räumliche Hörwahrnehmung aktivieren.
Das Hören im „musikalischen Raum“ ist keine rein auditive Wahrnehmung, da es durch eine Interaktion der Sinne gesteuert wird.5 Das oben beschriebene Assoziieren der Körpermitte mit dem erklingenden Ton ist ein Beispiel für die Interaktion von Sensomotorik und Gehörsinn. Die Klavierpädagogin Margit Varró weist darauf hin, dass die Sinnesinteraktionen auch beim musikalischen Lernen stattfinden. Nach ihrer Methode sollte man den dominierenden Wahrnehmungssinn einer Schülerin stets zu assoziativen Verknüpfungen mit dem Gehörsinn anleiten.6 Insbesondere die räumlichen Assoziationen zu Formen, Farben und körperlicher Bewegung sowie die verbale Beschreibung der Höreindrücke unterstützen den individuellen Zugang zum inneren Hören. Beispielsweise verinnerlicht ein Kind eine rhythmische Bewegung leichter durch eine passende Schrittbewegung, ein anderes durch die grafische Darstellung der Notenwerte, ein drittes durch Rhythmussilben oder durch eine Kombina­tion dieser Lernweisen.
Aufgrund der Sinnesinteraktionen beim inneren Hören sind für die Bildung des musika­lischen Gehörs am Klavier folgende Unterrichtsmethoden geeignet:
1. Lernen mit Hilfe farbiger Bälle,
2. Hören und Spielen von Akkorden,
3. „Greifbare“ Notation von Melodien,
4. Darstellen des Rhythmus durch Körperbewegungen.
Diese Methoden entwickeln das Gehör mittels auditiv-visuell-motorischer Assoziationen und ermöglichen es, den Anfangsunterricht mit jungen SchülerInnen vielfältig und interessant zu gestalten.

1 Beata Ziegler: Das innere Hören als Grundlage einer natürlichen Klaviertechnik. Gedanken zum inneren ­Hören, Frankfurt am Main 22010, S. 51.
2 ebd., S. 54.
3 Der Begriff „Ich-Punkt“ steht nach Carl Gustav Jung für eine abstrahierte Auffassung des Ichs; vgl. Carl Gustav Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken, aufgezeichnet und hg. v. A. Jaffé, Zürich 41986, S. 327.
4 „Geistiges Ohr“ ist ein Begriff von Beata Ziegler für das innere Hören; vgl. Ziegler, a. a. O., S. 13.
5 vgl. Ernst Kurth: Musikpsychologie, Berlin 1931,
S. 135.
6 s. Margit Varró: Der lebendige Klavierunterricht.
Seine Methodik und Psychologie (1929), Hamburg 41958, S. 214 ff.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2015.