© Daniel Bengü

Hubrich, Sara

Be your voice

Gemeinsames Singen und Gestalten auf Augenhöhe

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2022 , Seite 22

Singen und Sprechen als Genuss, Ausdruck von Selbstbestimmung und gelebter Kreativität auf jedem Niveau erlebbar machen: „Use your voice – have a voice“, ein Ansatz aus der Commu­nity Music in der Sozialen Arbeit, kann dies ermöglichen. Dieser Beitrag bietet Anregungen aus einem stetig wachsenden Pool vokaler Musikspiele und niederschwelliger Warm-ups sowie aus Konzepten für gemeinsames Singen und Gestalten auf Augen­höhe und lädt zum Experimentieren ein.

Die Stimme gehört universell zu uns: „Eingebunden in die Gesamterscheinung einer Person – in Haltung und Bewegung, Atmung, Mimik, Gestik, Ausstrahlung insgesamt –, erscheint die Art und Weise, wie jemand spricht – mit individuellem Atem- und Stimmklang, in je verschiedenem Tempo, Rhythmus, Tonfall, ‚Taktgefühl‘, in unterschiedlicher Tonhöhe, Lautstärke und Melodiekurve –, als unverwechselbarer Ausdruck der Persönlichkeit.“1 Singen ist darüber hinaus die Grundlage (fast) allen Musizierens, das wissen wir ebenso instinktiv wie aus Studien. Dass gemeinsames Singen auch auf weit gestreutem Niveau gleichsam „Flügel verleiht“, freies Atmen anregt, stimmungsaufhellend wirkt, das Gruppengefühl zu intensivieren vermag und sogar das Immunsystem stärken kann, ist hinlänglich bekannt und Grundlage vieler Konzepte kultureller und musikalischer Bildung.2
Andererseits kennen wir Hemmungen zu singen bei Musiklernenden jeden Alters, möglicherweise auch bei uns selbst. Trotz vieler Bemühungen von Seiten diverser Bildungseinrichtungen wird in vielen Elternhäusern kaum gesungen.3 Nicht selten erhalten manche Menschen offenbar in ihrer Schulzeit und später die Rückmeldung, dass ihre Stimme nicht schön sei, oder sie werden in anderer Weise bloßgestellt, sodass sie nicht oder nur widerstrebend zu dieser Ausdrucksweise greifen. Es bedarf vielfältiger Zugänge jenseits von Leistungserwartungen, um zu einem befreiten stimmlichen Ausdruck und künstlerischem Gebrauch in Selbstakzeptanz zu ermutigen. „Use your voice – have a voice“: Das ist der Titel eines Seminars, das ich im Bereich der Sozialen Arbeit seit gut vier Jahren veranstalte. Die Devise ist wörtlich gemeint: Wenn wir die Stimme bewusst und aktiv nutzen, dann steht sie uns zur Verfügung und wir haben mitunter nicht nur Mut zu sprechen und zu singen, sondern wir können auch für uns sprechen und mit Selbstvertrauen selbstbestimmt handeln.4

Sich Stimmlich ausdrücken

„Deine Stimme darf klingen, wie sie klingt“:5 Alle beginnen dort, wo sie sich mit ihren stimmlichen Voraussetzungen gerade befinden.6 Wie können sinnvolle musikalische Aktivitäten in diesem weiten Kontext jenseits von Vorerfahrungen aussehen? Und weiter: Was ist möglich, wenn sogar die Leitung selbst dort angesiedelt ist? Mein Seminar bietet Wege an, die es ermöglichen, mithilfe von Autonomie-Erfahrungen in vokale Aktivitäten zu kommen und die Vorzüge zu erfahren, die durch das Singen allein und in Gruppen entstehen können. Diese Vorgehensweisen beruhen auf der Arbeit mit angehenden SozialarbeiterInnen, die sich vor allem aus kulturellen und gestalterischen Beweggründen mit voraussetzungsoffenem Musizieren befassen. Sie erfinden eigene Ideen für das Initiieren von bewusstem Sprechen und Singen und setzen diese in herkömmlichen oder innovativen und meist in spielerischen Formaten um. Dabei ist ein Pool aus Methoden entstanden, aus dem hier einige exemplarisch vorgestellt werden. Erfahrungen werden dabei kritisch hinterfragt und auf Möglichkeiten des Transfers hin reflektiert.
Im Unterschied zu vielen pädagogischen Angeboten richtet sich Community Music an alle Menschen der Community. Schwellen sollen niedrig gehalten, vielfältige Einstiege ermöglicht werden. In Aushandlungsprozessen wird gemeinsam und schrittweise das weitere Vorgehen entwickelt. Gleiches gilt für die Musik in der Sozialen Arbeit, wobei hier die Grenzen noch weiter ausgedehnt werden und eine gemeinsame Rahmung und Sprache oft erst gefunden werden muss. Dabei rückt die Beziehungsbildung mit und durch Musik meist in den Vordergrund und wird stärker gewichtet als das musikalische Ergebnis und der stetige Zuwachs an Kompetenz. Die Anleitenden verstehen sich dabei als Unterstützende im Entwicklungsprozess der Gruppe, deren Mitglieder möglichst auf Augenhöhe agieren. Im englischsprachigen Raum wird an dieser Stelle häufig der Begriff „Facilitator“ verwendet.7

1 Rüdiger, Wolfgang: „Expressives Sprechen als musikalische Grundkompetenz“, in: Praxis Grundschule, Heft 6, 2003, S. 22.
2 Auswahl: www.kulturmachtstark-sh.de/startseite (Stand: 20.7.2022); https://thg-koeln.de/vocal-break (Stand: 20.7.2022); Smith, Paul: The Voces8 Method, Leipzig 2022.
3 vgl. https://singen-mit-kindern.de (Stand: 20.7.2022).
4 s. „Empowerment“, www.handbuch-empowerment.de/ index.php/was-ist-empowerment (Stand: 20.7.2022).
5 Ausländer, Peter: MundArt. Vokalspiele, musikalische Maulereien und Stücke für Stimmen. Anregungen für die musikalisch-künstlerische Arbeit mit Gruppen, ­Vlotho 2007, S. 3.
6 Im Sinne von Christopher Smalls Begriff des „Mu­sicking“ von einem weiten Musikbegriff. Small, Christopher: Musicking, Hanover 1998, S. 9.
7 Higgins, Lee: „Community Music verstehen. Theorie und Praxis“, in: Hill, Burkhard/de Bánffy-Hall, Alicia: Community Music. Beiträge zur Theorie und Praxis aus internationaler und deutscher Perspektive, Münster 2017, S. 46.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2022.