© Sebastian Herbst

Rößler, Antje

Zukunft im Blick

Das Symposium „Fit für die Zukunft!?“ diskutierte die Entwicklung von Musik(hoch)schulen aus künstlerischer und musikpäda­gogischer Perspektive

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2024 , Seite 48

Fachkräftemangel, Zerfall des künstlerischen Kanons, Einwanderung, Digitalisierung oder #MeToo: Die Liste der Herausforderungen, vor denen Deutschlands fast tausend öffentliche Musikschulen und rund zwei Dutzend Musikhochschulen stehen, ist längst nicht komplett. Wie lässt sich auf all das reagieren? Wie können Veränderungen in den Bildungsinstitutionen ganz praktisch in die Wege geleitet werden? Danach fragte das Symposium „Fit für die Zukunft!? Entwicklung von Musik(hoch)schulen aus künstlerischer und musikpädagogischer Perspektive“, das Anfang Mai in den Räumen der Universität der Künste Berlin in Kooperation mit der Musikhochschule Mannheim stattfand.

Das vielseitige Programm bestand aus Vorträgen, Diskussionsrunden, Workshops und künstlerischen Beiträgen. Die DozentInnen kamen aus den Bereichen Kunst, Pädagogik, Wissenschaft bis hin zu Verwaltung. Mehrere Impulsvorträge umrissen den Problembereich. So ging Wolfgang Rüdiger, Fagottist und Professor in Düsseldorf, ins Grundsätz­liche und prangerte einen einseitig intellektuellen Umgang mit Musik in den Institutionen an. „Wenn wir das aktive Musizieren auf seine Wurzeln im Leben zurückführen und vielen Menschen in der Gesellschaft zugänglich machen wollen, so müssen wir unsere akademischen Umgangsformen mit Musik erweitern und neue Verhaltensweisen entwickeln“, meint Rüdiger, der auch als Ständiger Mitarbeiter bei üben & musizieren tätig ist. „Neben dem Streben nach künstlerischer Exzellenz gilt es an den Hochschulen auch, Musik als Ausdruck seelischer Bedürfnisse und soziale Kunst zu praktizieren.“
Auf den Nägeln brannte vielen TeilnehmerInnen die problematische Diskrepanz zwischen der künstlerischen Ausbildung und der späteren beruflichen Tätigkeit. Wer eine feste Orchester-Stelle oder gar eine Solo-Karriere anstrebt, wird meist enttäuscht. Viele Absolventinnen und Absolventen gehen in die Freiberuflichkeit oder wechseln ganz die Branche. Auch über die Tätigkeit an Musikschulen werden oft falsche Vorstellungen vermittelt. Kein Wunder, dass die Bewerberzahlen abnehmen und die Attraktivität des Musikstudiums sinkt, wie die Bremer Instrumentalpädagogin Barbara Stiller in ihrem Vortrag anmerkte. Es gilt, Vorstellungen über Alternativen zu entwickeln und entsprechend in die Studiengänge einzubinden – seien es Fähigkeiten der Musikvermittlung, unternehmerische Kompetenzen oder digitale und technische Skills.
Um die komplexe Thematik besser in den Griff zu bekommen, wurden vorab acht Leitfragen formuliert, zum Beispiel: Sollte sich die Ausbildung an der Persönlichkeitsentwicklung oder am Berufsfeld ausrichten? Oder: Wie lässt sich die Balance zwischen Nähe und Distanz im Unterricht aushandeln? Anhand dieser Fragen wurde der Ablauf des Symposiums strukturiert. So fand am Freitagnachmittag ein World-Café statt. Bei dieser Workshop-Methode wechseln die TeilnehmerInnen zwischen verschiedenen Gruppen und kommen dabei untereinander ins Gespräch. Es gab acht Diskussionstische, einen für jede Leitfrage. Nach jeweils 20 Minuten wechselte man den Tisch.
An einem der Tische ging es um die Frage, inwiefern das Musikstudium vor dem Hintergrund einer zunehmend heterogenen Schülerschaft eine elitäre Angelegenheit sei. Geleitet wurde die Runde von der mexikanischen Politikwissenschaftlerin Alejandra Nieves Camacho, die als Diversitätsbeauftragte der UdK Berlin tätig ist. Die Teilnehmenden sammelten Ideen, wie sich die Chancengleichheit im Musikstudium erhöhen ließe. Stichworte wie „Duales Studium“, „Stipendien“ oder „Familienfreundlichkeit“ kamen auf. Als heißes Eisen erwies sich das Thema einer Quote für bestimmte Gruppen. Ina Finger, Leiterin der Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg, schilderte die strukturelle Benachteiligung hiesiger AbiturientInnen. Deren Ausgangssituation sei sehr schlecht: wegen des straffen G8-Schulalltags, der fehlenden Unterstützung durch die allgemeinbildenden Schulen, der unzureichenden Kapazitäten in den Musikschulen. „Wir bekommen unsere eigenen Schülerinnen und Schüler kaum in die Musikstudiengänge. Sie treffen in den Aufnahmeprüfungen auf Konkurrenz aus dem Ausland, die zum Teil anderswo bereits ein Studium abgeschlossen hat. Da haben sie keine Chance.“
An einem weiteren Tisch ging man unter der Moderation zweier Musikschullehrerinnen der Frage nach, ob sich die musikalische Ausbildung eher an der Persönlichkeitsentwicklung oder an beruflichen Ansprüchen ausrichten sollte. Ein Problem ist das schlechte Image der Pädagogik im Vergleich zum künstlerischen Bereich. „Wer zu schlecht Klavier spielt, landet in der Musikschule“, brachte eine Teilnehmerin das Klischee auf den Punkt. Dass nur ein Bruchteil der Musikschullehrkräfte fest angestellt ist, macht den Beruf nicht attraktiver. Hilfreich wäre es, gleich bei der Aufnahmeprüfung auch die pädagogische Begabung im Blick zu haben.
Überhaupt kristallisierte sich der Fachkräftemangel an den Musikschulen als eines der dringlichsten Probleme heraus. „Die Hochschulausbildung geht komplett am Bedarf vorbei“, so die Musikschulleiterin Ina Finger. „So gibt es in ganz Berlin keine Institution, die Musikschullehrkräfte im Popularmusikbereich ausbildet. Die Absolventen aus der künstlerischen Ausbildung bräuchten wir auch in der Pädagogik. Da fehlt eine Schnittstelle.“ Ina Finger verwies auf ihre eigene Ausbildung in der DDR, wo sie im Orchesterstudiengang auch fundiertes pädagogisch-didaktisches Wissen erhielt.
In der Gesprächsrunde zu Nähe versus Distanz im Einzelunterricht fanden sich überwiegend Gesangspädagoginnen ein, die mehr als ihre Kollegen im Instrumentalbereich von dieser Thematik betroffen sind, da sie intensiver mit Berührungen arbeiten. Eine Angst vor Berührung muss wohl im Gesangsunterricht weit verbreitet sein, so vermittelten es die Diskussionsbeiträge. Die körperliche Berührung gilt hier stets als potenzielle Grenzüberschreitung. Die Gesangspädagoginnen beschrieben ihre Schülerinnen und Schüler als verletzliche, hochsensible und psychisch kaum belastbare Wesen.
Diskutiert wurde die Idee eines Ampelsystems, mit dem eine Schülerin vor jeder Stunde ihre psychische Verfasstheit und Berührungswilligkeit mit rot, gelb oder grün deklarieren kann. Auch eine Berührung mittels Gummibällen ist denkbar, falls menschliche Hände als übergriffig empfunden werden. „#MeToo hat sehr viel verändert; nicht nur ins Positive“, meinte Angela Nick, Vizepräsidentin des Bundesverbandes Deutscher Gesangspädagogen. „Es hat sich auch viel Angst aufgebaut, wie Sätze oder Gesten gedeutet werden könnten.“
Am Ende war es schade, dass die zahlreichen Ideen und Einsichten aus diesem World-Café nicht ausgewertet wurden, sondern unkommentiert im Raum blieben.
Praxisnah ging es am Samstag mit sieben parallel laufenden Workshops weiter. Die thematische Bandbreite reichte vom Potenzial des Gruppenunterrichts über Möglichkeiten der Repertoire-Bereicherung bis zur zeitgemäßen Fachdidaktik. Einen Workshop mit dem Titel „Das Spiel des Musikers im Spiegel seiner Persönlichkeit“ leitete die Flötistin und UdK-Professorin Christina Fassbender, die sich derzeit zur Atempädagogin weiterbildet. In ihrem Workshop vermittelte sie, wie sich Atem und Bewegung in den Unterricht einbeziehen lassen. „Über den Atem findet der Musiker den Weg zur künstlerischen Authentizität“, so Fassbender, die einen anschaulichen Einblick in ihr ganzheitliches Unterrichtskonzept bot. „Jede Klangfarbe lässt sich im Körper ansteuern“, ist sie überzeugt. „Ein Gedanke reicht dafür nicht aus.“
Im Rahmen des Symposiums wurde auch das 40-jährige Bestehen der Zeitschrift üben & musizieren gefeiert, die seit 1983 bei Schott erscheint. Es handelt sich um die einzige Zeitschrift im deutschsprachigen Raum, die sich speziell an InstrumentalpädagogInnen wendet. Eine Zukunftswerkstatt zur Entwicklung von Fachmedien wurde von Redakteur Rüdiger Behschnitt und Kerstin Weuthen, Musikpädagogik-Professorin in Düsseldorf, geleitet. Die Musikpädagogin Anne Günster referierte darüber, wie sich der Wandel musikpädagogischer Diskurse im Laufe der Jahrzehnte in der Zeitschrift widerspiegelte.
Die Redaktion von üben & musizieren geht mit der Zeit und hat vor vier Jahren den Musikpädagogik-Podcast „Voll motiviert“ ins Leben gerufen. Im Saal hörten die Teilnehmer Ausschnitte aus einer Podcast-Folge, in der Ulrich Mahlert, der von Anfang an zu den Mit-Herausgebern der Zeitschrift gehört, die Geschichte der Zeitschrift zusammenfasste. Mahlert bezeichnet die Instrumentalpädagogik als „Dreiklang von Erziehungskunst, Praxiswissen, Wissenschaft“. Die einseitige Fokussierung auf die künstlerische Entwicklung angesichts des gleichzeitigen Fachkräftemangels im musikpädagogischen Bereich nennt er eine „wirklichkeitsblinde, eigentlich fahrlässige Art der Ausbildung“.
Das anregende und abwechslungsreiche Symposium bot viel Raum zur Kontaktpflege und zum Netzwerken. Dabei herrschte eine positive, kollegiale Stimmung. Größere Kont­roversen traten nicht auf. Vielmehr bestand Einigkeit darin, dass die Studiengänge den Weg in eine größere Vielfalt von Musikberufen ermöglichen sollten. Angesichts der Herausforderungen in der musikalischen Bildung böte jede der acht Leitfragen wohl genug Stoff für eine eigene Konferenz. Fertiglösungen wurden hier natürlich nicht aus dem Zylinder gezaubert. Aber das Nachdenken und der Austausch werden nun sicherlich auch hinter den Kulissen weitergehen.

Dokumentation des Symposiums:
https://uebenundmusizieren.de/artikel/zukunft-im-blick

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2024.