Fürst-Heidtmann, Monika

Besser vorbereitet auf ein selbstständiges Leben

Luise Scherf engagiert sich für musik­pädagogische Projekte in Nicaragua. Ein Gespräch mit Monika Fürst-Heidtmann

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 6/2009 , Seite 44

Luise Scherf hat Ende der achtziger Jahre für längere Zeit in Managua gelebt und in der Nationalen Musikschule Klavier- und Theorieunterricht gegeben. In der Folgezeit organisier­te sie regelmäßig Fortbildungskurse in Musik für LehrerInnen und ErzieherInnen an Grundschulen und in Kindergärten, da in Nicaragua bisher diese Inhalte nicht Bestandteil des Studiums oder der Ausbildung sind. Ziel dieser Aktivitäten war und ist es, Kindern aus sozial benachteiligten Bevöl­kerungsschichten den Zugang zur Musik zu ermöglichen. Deshalb verbündete sich Luise Scherf mit dem Projekt „Música en los Barrios“ (Musik in den Armenvierteln), in dem es einen Kinder- und Jugendchor gab und viele Kinder Blockflötenunterricht erhielten, um später bei entsprechender Begabung ein anderes Instrument erlernen zu können. Seit 1997 ist „Música en los Barrios“ ein Teil von „Pan y Arte“ (Brot und Kunst), einer von Dietmar Schönherr gegründeten Organisation, die Kulturprojekte für Kinder und Jugendliche in Nicaragua fördert. Inzwischen erreicht das Projekt etwa 300 Kinder pro Jahr, die Instrumental­unterricht bekommen. Es gibt monatliche Fortbildungs­angebote für LehrerInnen und ErzieherInnen, die in ihren Ein­richtungen als Multiplikatoren für musikalische Aktivitäten wirken.

Seit Kurzem ist bei uns die Bedeutung der Musik für die Bildung der Persönlichkeit verstärkt ins öffent­liche Bewusstsein gerückt. Politiker fördern „Musikländer“ oder lassen ganze Schulklassen Instrumente lernen. Venezuela hat schon seit den 1970er Jahren mit seinen übers ganze Land verstreuten Jugend­orchestern eine beispiellose soziokulturelle Bewegung ausgelöst. Und in Nicaragua haben Sie seit den 1980er Jahren an Projekten mitgewirkt, die Kindern und Jugendlichen durch die Beschäftigung mit Musik und Kunst bessere Lebensperspektiven verschaffen sollen. Wie kam es dazu?
Ich bin damals eineinhalb Jahre in Nicaragua gewesen und habe an der Escuela Nacional de Música, dem Konservatorium in Managua, als Musiklehrerin gearbeitet. Dabei habe ich die Verhältnisse an den staatlichen Schulen kennen gelernt und gemerkt, dass da überhaupt nichts läuft mit Musik – aus nachvollziehbaren Gründen. Denn wenn 60 bis 80 Kinder pro Klasse ein­gepfercht an kleinen Tischen sitzen und sich nicht rüh­ren können, ist Musikunterricht mit Bewegung schwer möglich. Also habe ich 1990 angefangen, Fortbildungskurse für Grundschullehrkräfte zu organisieren – ein unglaublich großer Bedarf.

Worum ging es dabei?
Singen, Tanzen, Bewegungsspiele. Ich habe ihnen z. B. Bewegungsspiele beigebracht, die ich in Spanien und lateinamerikanischen Ländern gesammelt hatte, und sie mit körpereigenen „Instrumenten“ wie Klatschen und dergleichen begleitet, weil die Schulen dort nichts haben. Das konnten die Lehrer im Unterricht einsetzen, wobei sie die Klassen in kleinere Gruppen teilen müssen.

Sie haben dann auch Instrumentalunterricht für Kinder organisiert.
Ja, aber das hatte einen Vorläufer. Damals lernte ich den spanischen Priester Angel Torellas kennen. Er hat zusammen mit einer US-amerikanischen Nonne in seiner Gemeinde dafür gesorgt, dass Kinder, die Zeit und Lust dazu hatten, Flöte spielen lernten – er selbst war ein begeisterter Flötist. Gleichzeitig hat er Spenden gesammelt, um Gitarren anzuschaffen, und hat einen Chor gegründet. Was er angefangen hat – Kindern die Möglichkeit zu geben, sich mit Musik zu beschäftigen und ein Instrument zu spielen, und dann das, was sie gelernt haben, an neu Dazukommende weiterzugeben –, dieses Prinzip haben wir beibehalten. Und auch den Namen „Música en los Barrios“: Musik in den Armenvierteln.

Gibt es denn keinen Musikunterricht in den Schulen?
Nur an den Privatschulen, wo z. B. Musiker aus dem Nationalorchester unterrichten. Reiche Leute können sich das leisten, an den staatlichen Schulen fehlt das.

Was hat sich geändert, seit Sie 1993 zu „Música en los Barrios“ kamen?
Zum System gehört es bis heute, dass es in den Vierteln keine Musikschule gibt, sondern der Unterricht in der Kirche oder im Gemeindesaal oder in der Schule stattfindet. Meine Lehrer-Fortbildung kam dazu: Die Lehrer vor Ort werden regelmäßig von Managua aus besucht, erhalten Supervision und werden weitergebildet. In drei anderen Städten gibt es jetzt ebenfalls eine Música-Guppe, in Managua sind es zehn Barrios. Zu Padre Angels Zeiten lernten die Kinder nur Flöte spielen, jetzt können die Begabten auch ein anderes Instrument lernen.

Ein kulturelles Entwicklungshilfeprojekt?
Vielleicht. In Deutschland bezieht sich Entwicklungshilfe im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern, der Schweiz, Österreich und Holland bisher leider ausschließlich auf infrastrukturelle Maßnahmen wie Krankenhäuser, Schulen, technische Zusammenarbeit – aber nicht auf Kultur. Doch Menschen brauchen auch eine persönliche Infrastruktur. Ich bin als Musikpäda­gogin zutiefst davon überzeugt, dass – egal wo das Kind lebt, in Deutschland oder Nicaragua – die ästhetische Erziehung für die menschliche Entwicklung eine fundamentale Bedeutung hat und die Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflusst.

Nicaragua verfügt zwar über besondere Naturschönheiten, wird aber ebenso heimgesucht von Natur­katastrophen wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen und Hurricans. Dazu kommen politische Wechselbäder zwischen Diktatur und Sozialismus, Ausbeutung und Korruption. Beides zusammen hat die Nicaraguaner zu den Ärmsten in Lateinamerika werden lassen. Steht einer derart gebeutelten Bevölkerung nicht die Sicherung der Existenz näher als Kunst und Kultur?
Unser Ziel mit dem Musikprogramm in den Armenvierteln der Großstädte ist es, den Belastungen der Kinder, die oft in einer Umgebung aus Kriminalität, Gewalt und Drogen mit viel Lärm und Schmutz aufwachsen, etwas entgegenzusetzen. Wir möchten ihnen dazu verhelfen, sich durch die Beschäftigung mit Musik in ihrem Leben besser bewegen und entwickeln zu können. Denn wenn ich Kindern die Chance gebe, in Ruhe eine Melodie zu spielen oder ein Bild zu malen, wenn ich ihnen diese ästhetische Erfahrung ermögliche, lernen sie sich zu konzentrieren und gewinnen Selbstsicherheit. Und wenn sie die Erfahrung machen, dass sie in einer Grup­pe von fünf bis zehn Kindern wichtig sind und dass man sich um sie kümmert, dann wächst ihr Selbstvertrauen. Das beeinflusst dann auch das Verhalten in der Schule. Denn sie lernen: Wenn ich übe und dabei bleibe, kann ich etwas erreichen.

Wird neben Selbstwertgefühl, Konzentration und Leistungswillen nicht auch das soziale Empfinden der Kinder gestärkt?
Natürlich, denn anders als auf der Straße geht es in der Musik nicht um Selbstbehauptung, sondern ums Hö­ren, Zuhören und Aufeinanderhören. Das macht die Kinder sensibler, gruppenfähiger und schafft ein Gemeinschaftsgefühl.

Wenn man die Kinder fragt, warum sie am Música-Programm teilnehmen, sagen sie, zu Hause sei es so trist und der Musikunterricht brächte Freude.
Das ist ja eine tolle Antwort. Ich würde mir bei vielen Kindern hier in Deutschland wünschen, dass sie sagen: Es macht mir Spaß, ich gehe nicht nur hin, weil meine Eltern es wollen. Ich bin mir ganz sicher, dass die Kin­der aus den Barrios sehr viel von diesem Musikunterricht mitnehmen. Sie haben da eine sehr schöne Stun­de pro Woche, die sie sonst nicht hätten, das macht sie glücklich. Und das ist ja auch ein Wert.

Aber wird die Musik hier nicht instrumentalisiert im Dienste der erwähnten positiven Nebenwirkungen?
Ja, das ist schon so, aber es ist zunächst einmal eine Verteidigung gegen diejenigen, die sagen, Musik sei das Sahnehäubchen. Das ist sie eben nicht: Sie gehört zum menschlichen Leben dazu, sonst ist es unvollkommen. Und wenn Leute sagen, Musik sei Luxus und die Nicaraguaner bräuchten eher Straßen, Schulen, Handwerkszeug und Krankenhäuser, so ist das eine für Europäer typische, herablassende Haltung, weil sie einem Entwicklungsland das vorenthält, was man selbst sich leistet.

Wie geht denn der Unterricht in den Barrios vor sich?
In den Anfangszeiten gab es viele Schwierigkeiten und Frustrationen. Da wurde uns klar, dass unsere Flötenlehrer fortgebildet werden müssen. Das richtige Üben oder Gestalten einer Unterrichtsstunde ist ja eine Kunst für sich und die fällt nicht vom Himmel. Also fliegt das Blockflötenquartett Flautando aus Köln jährlich oder alle zwei Jahre hin, um Fortbildung zu machen. Damit die Lehrer erfahren, dass nicht nur die Technik des Flötespielens wichtig ist, sondern dass die Unterrichtsstunde in den Methoden wechseln und unterschied­liche Inhalte enthalten muss, auch Bewegung. Denn rhythmische Erziehung wird bei uns nicht extra ange­boten, sondern sollte integriert sein.

In welchem Alter beginnen die Kinder mit dem Música-Unterricht?
Mit ungefähr sieben Jahren in Gruppen von zehn bis zwölf Kindern, dann dünnt das erfahrungsgemäß aus. Die Kinder, die nach einem Jahr dabeibleiben, werden dann in kleineren Gruppen unterwiesen. Normalerweise gibt es mit weniger als fünf Teilnehmern keinen Flötenunterricht, weil das einfach zu teuer ist. Aber wenn die Kinder wirklich gut sind, werden sie auch in Vierer- oder Dreiergruppen betreut.

Inzwischen ist erkannt worden, wie wichtig eine musikalische Früherziehung ist. Sollte man dies nicht auch in den Barrios versuchen? Und dabei in einem freien, spielerischen Umgang mit Klängen, Geräuschen und Rhythmen aus dem Umfeld der Kinder erst einmal das Gehör und die Kreativität entwickeln?
Ja, das ist eine Idealvorstellung. Das schwebt mir für die Zukunft auch vor. Aber wir haben im Augenblick nicht die Möglichkeit, die kleineren Kinder einzubeziehen. Der Bedarf bei den Schulkindern ist so immens, weil es sonst nichts für sie gibt.

Woher stammen die Instrumente?
Meistens sind es Yamaha-Flöten, die wir für 1 Dollar 50 oder zwei Dollar in den USA bekommen. Aber wir haben inzwischen auch schon eine Reihe schöner Holzflöten in allen Stimmlagen für die Fortgeschrittenen von Förderern aus Deutschland erhalten.

Nehmen die Kinder die Instrumente mit nach Hause?
Das Risiko gehen wir ein, sonst könnten sie ja nicht üben. Das klappt auch. Bisher sind nur wenige Instrumente verschwunden.

Wenn man die Kinder beim Blockflötenunterricht beobachtet, kommt einem das vor, als ob er hier bei uns stattfände. Denn sie lernen nicht nur ein mittel-europäisches Instrument, sondern auch unsere Rhythmen und Klänge. Würden Selbstbewusstsein und Identitätsempfinden nicht eher gestärkt, wenn man die Kinder auf den Instrumenten ihres eigenen Kulturraums unterrichtete: auf Gitarren, auf den dort verbreiteten Perkussionsinstrumenten oder auf der für Mittelamerika typischen Marimba?
Flöten sind weltweit verbreitet und billiger. Bei den Nicaraguanern sind, anders als in Peru, Bolivien oder Mexiko, die vielleicht einmal vorhanden gewesenen musikalischen Wurzeln verschüttet. Sie haben als Volksinstrumente die Marimba und die Gitarre, und auch dafür bieten wir Unterricht an. Übrigens haben die Lieder, die sie singen, häufig den Vierertakt. Und wenn die Kinder lernen, in diesem Rhythmus zu spielen, zu singen oder sich zu bewegen, finden sie das toll.

„Música en los Barrios“ gehört seit 1997 zu „Pan y Arte“ (Brot und Kunst), einem 1994 von dem Schauspieler Dietmar Schönherr gegründeten Verein, der politisch wie wirtschaftlich unabhängig und überkonfessionell arbeitet und mit Hilfe von Spenden kulturelle Projekte in Nicaragua fördert. Zentrum von dessen vielfältigen Aktivitäten ist die so genannte Casa de los Tres Mundos in der schönen Kolonialstadt Granada. Auch dort spielt der Musikunterricht neben Kunst, Theater und Tanz eine große Rolle. Worin unterscheidet er sich von dem in den Barrios?
Beide Einrichtungen gehen von dem Leitsatz aus, dass Kunst wie Brot Lebensmittel des Menschen sind. In der Casa gibt es eine Musikschule mit eigenen Lehrern und einem eigenen Leiter. Dort kann jedes Kind von Anfang an das Instrument lernen, das es möchte. Ein Chor ergänzt das Programm. Und die Ergebnisse des Unterrichts werden in öffentlichen Konzerten präsentiert.

Kann die Beschäftigung mit Kunst auch zum Brot­erwerb führen, also Arte zu Pan werden?
Einige Schülern studieren Musik, weil sie daraus einen Beruf machen wollen. Die meisten aber nicht. Es ist ähnlich wie bei uns: Die wenigsten Kinder, die ein Instrument lernen, werden Profis.

Welche Berufsmöglichkeiten gibt es für Musiker in Nicaragua?
Unterrichten, aber mit mäßiger Bezahlung. Wenn man ein Studium mit einem international anerkannten Zertifikat hat, ist man besser gestellt. Man kann auch Straßenmusik machen oder in einem Sinfonieorchester mitspielen. Von den zwei Orchestern in Nicaragua enthält das Programm der von einem in Ostdeutschland ausgebildeten Oboisten gegründeten „Camerata Bach“ eine Mischung aus Chorälen und Schlagern, aus Bach, Telemann und nicaraguanischer Musik.

Woran würden Sie die Nachhaltigkeit bzw. den Erfolg des Musikunterrichts in den Barrios und in der Casa messen?
Nicht in Zahlen. Wir machen allerdings seit nun fünfzehn Jahren die Erfahrung, dass die Kinder und Jugendlichen, die an unserem Programm teilnehmen oder teilgenommen haben, weniger oder gar nichts mit Alkohol oder Drogen zu tun haben, dass es weniger oder gar keine Teenager-Schwangerschaften gibt und dass diese jungen Menschen besser auf ein selbstverantwortetes, selbstständiges Leben vorbereitet sind als viele andere.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2009.