Menrath, Thomas

Bewusst oder unbewusst?

Emotion und Kontrolle in Werkstudium und Interpretation

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 3/2010 , Seite 26

Ein verhältnismäßig eng umrissener Teilbereich des Werkstudiums und der Interpretation soll im Folgenden thematisiert werden. Es geht um das Verhältnis zwischen der häufig wenig oder gar nicht bewussten subjektiven, emotionalen Beteiligung am eigenen Spiel und der möglichst bewussten Kontrolle des Spiels, die sich nach objektiven Kriterien richtet. Dieses Verhältnis spielt eine wesentliche Rolle bei der Interpreta­tion eines Werks. Es wirkt sich aber auch auf die Phase der Erarbeitung und auf den Spiel­vorgang, also die spieltechnische Umsetzung aus.

In einer Filmaufzeichnung stellt Glenn Gould seine Interpretation des ersten Satzes der Sonate A-Dur KV 331 von Mozart vor.1 Diese Interpretation ist in der Tat sehr eigenwillig, man hört – wie ich finde, mit wachsendem Entsetzen – gewissermaßen eine Karikatur dieses Satzes: Das Tempo des Themas (Andante grazioso) wird vollkommen überdehnt, die fünfte Variation (Adagio) hingegen mindestens bis zum Allegretto beschleunigt, die Artikulation wird überzeichnet (nämlich im Thema) bzw. gleich ganz missachtet (z. B. in der ersten Variation), Motivanfänge werden stilwidrig akzentuiert usw.
Aus dem Gespräch innerhalb des Films geht vollkommen klar hervor, dass Glenn Gould diese Interpretation keinesfalls aus einem ernsthaften künstlerischen Motiv heraus erreicht, sondern dass es ihm offensichtlich um eine Persiflage des Mozart-Textes geht. Eine Absicht, die ihm vermutlich nicht nur Freunde bei den Zuhörern gebracht hat, ebensowenig wie seine Äußerungen über Mozart, der eher „zu spät als zu früh“ gestorben sei.2

Jeder kennt den Fall, dass man glaubt, gerade sehr ­ausdrucksstark und engagiert gespielt zu haben, während der Lehrer oder die Zuhörer signalisieren, dass eben jetzt vieles nicht gestimmt hat.

Für unseren Zusammenhang ist aber Folgendes wichtig: Glenn Gould liefert in dem Film auch eine zweite, nach seinen Worten „übliche“, aber „uninteressante“ Version, und als solche spielt er tatsächlich eine sehr schöne, stilistisch tadellose Fassung des Themas. Daraus folgt: Gould geht äußerst bewusst mit dem affektiven, emotionalen Anteil seines Spiels und seiner Interpretation um, auch wenn dieser Affekt leider ein negativer ist. Man mag mit dem Ergebnis nicht einverstanden sein, aber es bleibt das Ergebnis einer bewussten, freien, wenn auch reichlich skurrilen künstlerischen Entscheidung.
Ein zweites Beispiel aus jüngerer Zeit: Vor einigen Jahren hörte ich einen Klavierabend mit Werken von Chopin und Rachmaninow. Hier wandelte sich die Reaktion eines Teils des Publikums von gespannter Erwartung zu wachsendem Befremden, nach und nach verließen einige Zuhörer kopfschüttelnd den Saal. Das Spiel des Pianisten wirkte insgesamt etwas unklar, wie nach innen gesprochen. Der Grund für die Reaktion des Publikums lag vor allem aber in der Tempogestaltung. Die Agogik wirkte eigentümlich starr und unlebendig. Das Rubato wurde als Gestaltungsmittel zwar überreichlich eingesetzt, dies aber in so stereotyper Weise, dass jedes Motiv, jede Phrase, jeder Spannungsbogen absolut vorhersehbar wurde. Alles, auch relativ banale Wendungen, wurde unterschiedslos mit demselben stereotypen Rubato sozusagen hochbedeutsam aufgeladen, wodurch sich der Gesamtverlauf, die Dramaturgie natürlich nivellierte.
Diese Interpretation hinterließ Ratlosigkeit umso mehr, als man diesen Pianisten anders erlebt hatte. Nach Ansicht mancher wies sie geradezu pathologische Züge auf. Mit Sicherheit aber wurde als Gesamteindruck konstatiert, dass zumindest an diesem Abend ein höchst subjektiver, aber eben sehr einseitiger, eindimensionaler Gestaltungswille allen gehörten Werken gewissermaßen schematisch „übergestülpt“ wurde. Später war zu hören, dass dieser Pianist tatsächlich eine schwere langjährige persönliche Krise erlebt hatte, die er zum Zeitpunkt dieses Abends noch nicht überwunden hatte. Seine Interpretation war unter diesem Aspekt betrachtet möglicherweise weniger das Ergebnis einer bewussten künstlerischen Entscheidung als vielmehr Ausdruck einer krisenhaften Verengung des persönlichen Ausdrucksvermögens, die ihm zumindest zu diesem Zeitpunkt gar keine andere Wahl ermöglichte.

Zwei Verhaltensweisen im Unterricht

Beide Beispiele können als Extremformen von interpretatorischen Verhaltensweisen gesehen werden, die jeder Lehrende in mehr oder weniger ausgeprägter Form auf allen Unterrichtsstufen beobachten kann.
Mit der ersten Verhaltensweise ist im Unterricht vermutlich einfacher umzugehen. Sie kann allerdings eine gewisse Diskussionsbereitschaft vor allem von Seiten des Lehrers erfordern. Zunächst aber sollte so manches sichergestellt werden. Vor allem ist hier der Grad der Bewusstheit beim Lernenden zu hinterfragen. Hat er das Werk in seinen objektiven Parametern wie z. B. Stimmführung, Phrasenaufbau, harmonischem Ablauf, aber auch in seinem Spannungsverlauf und seiner Gesamtdramaturgie usw. wirklich zur Kenntnis genommen? Oder handelt es sich vielmehr um eine unreflektiert selbstherrliche oder auch möglicherweise nur vorschnelle Version?
Gesetzt den Fall, dass diese Fragen im posi­tiven Sinn beantwortet werden können, ist dann zu sehen, ob diese bewusst eigenwillige Interpretation überzeugend und tragfähig ist bzw. – mit anderen Worten – ob sie in sich schlüssig und logisch ist. Der Toleranz sind hier jedoch gewisse Grenzen gesetzt, die im Respekt vor den Absichten des Komponisten begründet sind. So wäre z. B. klarzustellen, dass Glenn Gould in erster Linie nicht Mozart, sondern eben Glenn Gould spielt.
Mit der zweiten Verhaltensweise verhält es sich oft wesentlich schwieriger. Der Grund hierfür liegt darin, dass die entscheidenden Ursachen nicht immer offen zu Tage liegen und in unterschiedlichsten Bereichen gesucht werden können. Bei dem genannten Beispiel ist davon auszugehen, dass der Pianist sein eigenes Spiel vermutlich als sehr intensiv und ausdrucksvoll empfunden hat, die Zuhörer hingegen als einförmig und stereotyp. Im folgenden Zitat werden mögliche Ursachen hierfür benannt:
„Jeder kennt den Fall, dass man glaubt, gerade sehr ausdrucksstark und engagiert gespielt zu haben, während der Lehrer oder die Zuhörer signalisieren, dass eben jetzt vieles nicht gestimmt hat und der Gesamteindruck durchaus nicht überzeugend war. Offensichtlich wurde hier durch die eigenen Emotionen die Wahrnehmungsfähigkeit für die realen Spielvorgänge gestört. […] Das Problem liegt [womöglich] darin, dass musikalische Werke Emotionen im Spieler ansprechen, die sich dann verselbstständigen können und nicht mehr konkret auf das Stück reagieren. Dieses gibt nur den Anstoß für das Ausleben subjektiver Emotionen, die sich oft in immer gleichen Bahnen bewegen, also wenig differenziert sind, mehr eine allgemeine Stimmung ausdrücken und sehr stark die Gefahr von […] schematischen Interpretationen in sich tragen. Oft sind es Reaktionen auf einzelne Parameter der Musik, die aber im konkreten Kontext einen etwas anderen Charakter haben als gewöhnlich.“3

1 Gesendet in 3sat am 17. November 1993; vgl. auch: „Von Mozart und verwandten Dingen: Glenn Gould im Gespräch mit Bruno Monsaingeon“, in: Glenn Gould: Von Bach bis Boulez, München 1986, S. 58 ff.
2 Gould, a. a. O., S. 59: „Ich konnte einfach nicht verstehen, wie meine Lehrer und andere mutmaßlich geistig gesunde Erwachsene aus meiner Bekanntschaft diese Stücke [die Pariser Sonaten Mozarts] zu den großen musikalischen Schätzen der westlichen Menschheit rechnen konnten.“
3 Linde Großmann: Vortrag zu Willy Bardas, Europäisches Klavierforum, Berlin 2001.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2010.