Adorno, Theodor W. / Erich Doflein

Briefwechsel

Hg. von Andreas Jacob

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim 2006
erschienen in: üben & musizieren 6/2006 , Seite 68

Anders als sein Briefpartner zählt Erich Doflein heute nicht mehr zu den viel zitierten musiksoziologischen Denkern des 20. Jahrhunderts. In der Musikpädagogik bekannt ist sein Name überwiegend durch Das Geigen-Schulwerk, dessen erstes Heft er 1932 zusammen mit seiner Frau herausgab, wobei Elma für das instrumental-praktische und Erich für das theoretische und ästhetische Grundkonzept zuständig war. Dies schloss Grundlagen der Improvisation und des Verständnisses der Klang- und Formensprachen von der Frühzeit bis zur Moderne ein und verlieh dem Schulwerk seine bis heute gültige Aktualität. Wie Paul Hindemith, Carl Orff und Mátyás Seiber gewann Doflein auch Béla Bartók für kompositorische Beiträge, woraus Bartóks 44 Duos für 2 Violinen entstanden. Der bis zu seinem Lebensende höchst streitbare Erich Doflein protestierte vehement gegen die Verwendung der Duos in den Instrumentalschulen des für die Sammelausgabe legitimierten Verlags.
„Pädagogische Musik“ ist auch eines der zentralen Themen des Briefwechsels von Adorno und Doflein. Erich Doflein war 1947 als Professor für Musikpädagogik an die neue Freiburger Musikhochschule berufen worden und zählte 1948 zu den Gründern des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Bayreuth, später Darmstadt. 1949 hatte er in der Zeitschrift Die Gegenwart Adornos Philosophie der Neuen Musik rezensiert und sich mit Adornos Rolle bei der Entstehung von Thomas Manns Roman Doktor Faustus beschäftigt. Adorno hatte schon 1936 kritisch über „Musikpädagogische Musik“ geschrieben und veröffentlichte 1954 seine „Thesen gegen die musikpädagogische Musik“.
Der 1949 von Adorno begonnene Briefwechsel wurde bis 1963 fortgesetzt und beruhte auf gegenseitiger Wertschätzung bei grundsätzlich verschiedenen Postionen. Adorno suchte den Kontakt mit Doflein, weil er von den Nachkriegsvertretern der „Musikalischen Jugendbewegung“ heftig abgelehnt und auch persönlich angegriffen wurde. Doflein distanzierte sich von der Ideologie der Sing- und Hausmusikbewegung, konnte aber mit seinem Verständnis für deren – aus den zwanziger Jahren stammendes – Gedankengut eine vermittelnde Stellung einnehmen.
Der Schreiber dieser Zeilen hat die höchst emotionalen Auseinandersetzungen um Adornos Kritik des Musikanten aus nächster Nähe durch seinen Bruder Helmut Seiffert mitbekommen, der sich nach der Loccumer Tagung „Ende der Singbewegung?“ (1957) in der Zeitschrift Die Sammlung von 1958 bis 1960 aus Sicht der Jugend- und Erwachsenenpädagogik mit der Geschichte und Soziologie der Singbewegung und mit den Antipoden Adorno und Karl Vötterle auseinander setzte. Hier kam zur Sprache, dass Pädagogik immer auch die Aufgabe hat, die – von Adorno verfochtene – Unantastbarkeit „großer Kunst“ deutlich zu machen. In der Überzeugung, dass es abzulehnen ist, wenn die Jugendmusikbewegung „die sogenannten gemeinschaftsbildenden, also pädagogischen Qualitäten an Stelle der künstlerischen setzt“ (Adorno), trafen sich Adorno und Doflein zumindest im Hinblick auf die Neue Musik. Adorno musste akzeptieren, dass Werke von Bartók auch dann authentisch bleiben, wenn sie für pädagogische Zwecke komponiert wurden.
Hat er verstanden, dass Erich und Elma Doflein mit dem Geigen-Schulwerk die Voraussetzungen für technisch und musikalisch fundiertes Instrumentalspiel im Sinne einer autonomen Kunst und des Vermeidens von Dilettantismus von der ersten Unterrichtsstunde an geschaffen haben? Hielt er dies auch im Hinblick auf die von ihm – Bach ausgenommen – unter Ideologieverdacht gestellte Barock- oder gar Blockflötenmusik für möglich? Das muss bezweifelt werden, denn Adorno fehlte der Sinn dafür, dass Kunstausübung auch ohne professionelle Ziele in professioneller Weise an Jugendliche und Erwachsene pädagogisch herangetragen werden kann. Sein Denkansatz hat aber bewirkt, dass ein Dualismus von Kunst- und Laienmusik heute nicht mehr existiert. Es ist nicht zuletzt Adornos konsequentem Bestehen auf hohem künstlerischen Anspruch zu danken, dass – etwa bei der Erarbeitung großer Musik durch Jugendorchester – das Gemeinschaftserlebnis seine Qualität gerade durch die Orientierung am Werk gewinnt.
Dass in diesem Band – über die exakt hundert Briefe und Postkarten hinaus – die gedanklichen Grundlagen des heutigen Musik- und Lehrverständnisses zum Ausdruck kommen, ist auch das Verdienst des Herausgebers Andreas Jacob. Seine ausgewogene Einleitung, die sorgfältige Dokumentation, das Geleitwort des einstigen Doflein-Studenten Dieter Schnebel, Marianne Kestings „Zerstreute Erinnerungen“ an ihren Lehrer Erich Doflein und an die ihr Leben und Denken mitbestimmenden Begegnungen mit Theodor W. Adorno stellen die Briefe in den zeit- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang. Dieser wird vervollständigt durch das Adorno-Doflein-Radiogespräch „Vereinsamung oder Historismus“ von 1951 und Erich Dofleins Aufsätze „Leverkühns Inspirator. Eine Philosophie der Neuen Musik“ (1949), „Gewinne und Verluste in neuer Musik und Musikerziehung“ (1955) und „Musik heute. Entwurf einer Diagnose“ (1959).
Reinhard Seiffert