Quelle: Europäische Kommission: Eurobarometer Spezial 484 (12/2018) / Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de

Oelze, Andreas

Bunt, vielfältig – unübersichtlich?

Religiös-weltanschauliche Pluralität und musikpädagogische Arbeit

Rubrik: Diskussion
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 38

Deutschland ist bunt und vielfältig – das gilt auch für den Bereich der Reli­gionen, religiösen Gemeinschaften und Weltanschauungen. Diese dynamische Vielfalt stellt auf der einen Seite eine Bereicherung, zugleich aber auch eine Herausforderung dar.

Christen, Agnostiker, Muslime, Buddhisten, Esoteriker, Neuheiden und viele andere: Die religiös-weltanschauliche Landschaft in Deutschland ist vielfältig geworden und befindet sich in einem ständigen Veränderungsprozess. Vor allem zwei Tendenzen dominieren die Entwicklung: auf der einen Seite die Säkularisierung, also die Abnahme der Bindekraft religiöser Überzeugungssysteme, auf der anderen Seite die Individualisierung und damit einhergehend die Pluralisierung. Waren in den 1950er Jahren noch über 90% der Menschen in der Bundesrepublik Mitglied der Evangelischen oder Katholischen Kirche, so ist der Anteil beider Kirchen seit 2022 unter die 50-Prozent-Marke gesunken. Daneben gibt es jedoch viele Freikirchen, religiöse Gruppierungen und weltanschauliche Gemeinschaften. Seit Jahren stellen die sogenannten Konfessionslosen die größte Gruppe mit einem Anteil von über 40% an der Gesamtbevölkerung dar.

Problem der Statistik

Dabei sind Religionsstatistiken, die auf Mitgliedschaft beruhen, mit Vorsicht zu genießen, denn sie bilden nur einen Teil der Wirklichkeit ab. So sagt etwa die Zugehörigkeit zur Gruppe der Konfessionslosen noch nichts über die Überzeugungen dieser Menschen aus. Auch der Islam als eine Religion, die sich nicht über formale Mitgliedschaft definiert, ist ein Beispiel dafür.1 Von den 5 bis 6% Muslimen, die als Anteil an der Gesamtbevölkerung angegeben werden, sind nur etwa 20% in einem Moschee-Verein organisiert. Dies zeigt, dass es alles andere als einfach ist, tatsächlich umfassende und belastbare Zahlen für die Zugehörigkeit zu religiös-weltanschaulichen Gruppen zu bekommen. Aufschlussreicher ist es, Menschen direkt zu befragen, wie sie sich selbst einordnen. Dann ergibt sich ein modifiziertes Bild (siehe Abbildung).

Religiös-weltanschauliche ­Vielfalt

Man kann davon ausgehen, dass neben den Mitgliedern der großen Kirchen weitere gut 20% der Menschen in Deutschland sich als religiös/weltanschaulich gebunden verstehen. Dieser letztgenannte Bereich ist es, der die bunte Vielfalt tatsächlich ausmacht.2 Den größten Anteil daran haben verschiedene christliche Freikirchen (wie Baptisten und Methodisten), Sondergemeinschaften und weitere Gruppierungen mit christlichem Hintergrund wie die Neuapostolische Kirche (NAK), die Siebenten-Tags-Adventisten, die Zeugen Jehovas oder die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (früher bekannt als Mormonen). Dazu kommt der Bereich des pfingstlich-charismatischen Christentums. Dieses zeichnet sich vor allem durch den Glauben an das unmittelbare Wirken des Heiligen Geistes aus, das sich dann in sogenannten „Geistesgaben“ wie etwa Zungenrede, Prophetie und Wunderheilungen manifestieren soll. Das pfingstlich-charismatische Christentum erlebt vor allem im globalen Süden und in Asien ein rasantes Wachstum. Entsprechend sind viele Migrationsgemeinden in Deutschland davon geprägt.
Überhaupt spielt Migration als weiterer Faktor im Hinblick auf die vorhandene religiös-weltanschauliche Vielfalt eine bedeutende Rolle. Das gilt z. B. für die orthodoxen Kirchen, deren Entstehung in Deutschland wesentlich auf Migration aus Ost- und Südosteuropa zurückgeht, ebenso wie für die sogenannten altorientalischen Kirchen, deren Mitglieder zum großen Teil im Rahmen der Fluchtbewegungen aus Syrien, dem Irak und dem nordöstlichen Afrika nach Deutschland gekommen sind. Auch die muslimische Bevölkerung geht zu einem Großteil auf Migration zurück, auch wenn natürlich viele Muslime bereits in zweiter und dritter Generation in Deutschland leben. In allen genannten Beispielen wie auch im Hinduismus spielt Konversion nur eine sehr geringe Rolle. Die einzige Ausnahme unter den erst seit neuerer Zeit bei uns vorhandenen Weltreligionen stellt der Bud­dhismus dar, bei dem Konvertierte einen wesentlichen Anteil ausmachen.
Hinsichtlich der religiös-weltanschaulichen Vielfalt in Deutschland ist schließlich die Esoterik gesondert zu nennen. Dazu gehört z. B. die Anthroposophie, aber ebenso das Neuheidentum, das sich selbst als Wiederbelebung vorchristlicher paganer Religionen versteht, oder auch die sogenannte Braune Esoterik.3 Allen diesen esoterischen Richtungen gemeinsam ist eine Weltdeutung, die davon ausgeht, dass die Welt von kosmischer Energie (nicht im naturwissenschaftlichen Sinne) erfüllt ist. Diese könne von den Eingeweihten über bestimmte Techniken entsprechend ihrer Bedürfnisse beeinflusst werden. Außerdem spielt die persönliche Intuition, die innere Stimme, eine zentrale Rolle als Quelle absoluten Wissens, das weit über die Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaften und der Religionen hinausgehe.

1 vgl. dazu Rohe, Mathias: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, München 2015, besonders S. 75 ff.
2 Den umfassendsten Überblick dazu bietet Pöhl­mann, Matthias/Jahn, Christine (Hg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015 (Ergänzungsheft 2021).
3 vgl. umfassend Pöhlmann, Matthias: Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich mischen, Freiburg 2021.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2023.