Rübenacker, Jutta
„da schufst du ihnen Tempel im Gehör“
Die „Sonette an Orpheus“ von Rainer Maria Rilke als Inspiration, dem Hören „nachzulauschen“
Die Sonette an Orpheus, aus denen diese drei Sonette stammen,1 sind Rainer Maria Rilkes letzter großer Gedichtzyklus. Musik hat Rilke sein Leben lang beschäftigt, allerdings in sehr ambivalentem Sinne. Viele Äußerungen in Briefen und im dichterischen Werk künden von schwankenden musikalischen Lebensprozessen zwischen Hingebung und Ablehnung, zwischen Angst vor dem Sich-Verlieren in der Hingabe und dem „Hingegebensein“ als „Vorstufe zu neuen Einsichten“.2
In den Jahren vor der Entstehung der Sonette an Orpheus bittet Rilke die Freundin und Pianistin Magda von Hattingberg, ihm beim Hören-Lernen behilflich zu sein. Während etlicher Besuche Rilkes, so berichtet diese in ihrem 1943 in Wien anonym veröffentlichen Buch Rilke und Benvenuta (eine Mixtur aus Briefwechseln mit Rilke und Erinnerungen an Rilke), hat sie ihn mit vielen großen Werken Beethovens und der Romantik, die Rilke bis dato nicht hören konnte, ohne sich von der Musik erschlagen zu fühlen, konfrontiert. Diese selbst auferlegte Hörschule führte schließlich zu einer stabileren Beziehung Rilkes zur Musik. Lag in vielen seiner Gedichte vor dieser Zeit der (immer präsente) musikalisch höchste Ausdruck in der Stille, so entstehen jetzt „Tempel im Gehör“.
1 Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 2: Gedichte 1910 bis 1926, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Frankfurt am Main 1996, S. 241 f. und 271 f.
2 Rilke am 1. November 1916 an Gräfin Aline Dietrichstein, München, in: Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1914 bis 1921, hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1937, S. 114.
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