Mücksch, Josephine
Dackelbeine und Maulwurfpfoten
Bewegungslernen im Instrumentalunterricht
Instrumentale Spielbewegungen werden eher erfasst und in die eigene Spielpraxis integriert, wenn ihre Vermittlung im wahrsten Sinne des Wortes sinnreich geschieht und Spielbewegungen als umfassende Körpererfahrung erlebt werden. Dabei kann die gemeinsame Suche nach Bild-, Sprach- und Klangvorstellungen eine lustvolle und kreative Unterrichtspraxis fördern.
Muzio Clementi veröffentlicht in den Jahren 1817 bis 1826 mehrere Bände an Fingerübungen und Etüden mit dem vielversprechenden Titel Gradus ad Parnassum. Das disziplinierte und regelmäßige Wiederholen dieser Übungen soll im metaphorischen Sinne zum Gipfel des Parnass, gemäß der griechischen Mythologie der Sitz der Götter, führen. Rund 70 Jahre später lässt Johannes Brahms dem Musikverlag Simrock 51 Übungen für Klavier zukommen. Das Titelblatt, schreibt er voller Ironie, solle „sehr bunt u. schön“ sein: „Ich denke mir alle möglichen Folterinstrumente, von den Daumenschrauben bis zur eisernen Jungfrau darauf angebracht, auch viell. einiges Anatomische u. alles in schönen Blutroth und Flammengelb.“1 Das von Sigismund Thalberg und Friedrich Wieck nachdrücklich empfohlene Fingertrainingsgerät2 lässt diese Analogien nicht abwegig erscheinen.
Die Klavierliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts überschlägt sich nahezu mit technischen Spielheften. Doch nicht die Werke an sich sind ein Problem, sondern der Umgang mit ihnen erscheint oft fragwürdig: Viele der Etüden wurden über Generationen hinweg unreflektiert geübt und sind bis heute wenig inspiriert in den Gängen der Musikinstitutionen zu hören. Diese kritische Bemerkung bezieht sich auf die nicht selten anzutreffende Annahme, dass allein das Spielen und somit die rein motorische Ausführung der Übungen die richtige pianistische Spieltechnik mit sich bringt.3 Doch die Fixierung auf die reine Spieltechnik läuft Gefahr, die Sinne der Musizierenden auszuschließen und somit grundlegende Verstehensprozesse zu unterlaufen. Das ist fatal, denn aus Perspektive des Bewegungslernens ist das Einbeziehen der Sinne der entscheidende Faktor für ein umfassendes körperorientiertes Verstehen spieltechnischer Instruktionen.
Blick in die Ferne
In meiner Zeit als Klavierstudentin habe ich dies selbst eindrücklich erlebt: Richteten die Lehrenden im Klavierunterricht ihre technischen Hinweise auf eine spezifische Körperregion, zum Beispiel auf einen bestimmten Finger, empfand ich die Bewegungsausführung mühseliger, als wenn sich die Instruktion auf eine Bildassoziation oder die Klangvorstellung bezog. Letzteres störte mich zudem weniger im musikalischen Ausdruck und ließ mich die Instruktion beim Nachbereiten der Stunde effektiver abrufen. Diese Erfahrung hat unmittelbar Einfluss auf meine Arbeit als Klavierpädagogin genommen.
Im Klavierunterricht suche ich stets nach Antworten auf folgende Frage: Wie können instrumentale Spielbewegungen so vermittelt werden, dass die Schülerinnen und Schüler die spieltechnischen Instruktionen nicht nur kognitiv verstehen, sondern auch intensiv empfinden und harmonisch in das Spielgefühl eingliedern? Ein theoretischer Anknüpfungspunkt findet sich in Marion Saxers Beitrag „Spiel- und Übe-Anweisungen für motorische Automatisierungsprozesse beim Instrumentalspiel“,4 in dem sie sich auf Studien der Bewegungsforscherin Gabriele Wulf bezieht. Wird die Aufmerksamkeit vom Körper weg auf den Bewegungseffekt (externaler Aufmerksamkeitsfokus) gelenkt, begünstigt das eine gelungene Bewegungsausführung eher, als wenn sich die Aufmerksamkeit auf den Körper selbst (internaler Aufmerksamkeitsfokus) konzentriert.5 Deutlich wird das beim Versuch, auf einem Bein zu stehen. Der Blick auf einen Punkt in der Ferne ist dafür deutlich hilfreicher als die Konzentration auf das Standbein. Dieser „Blick in die Ferne“ ist auch beim Musizieren nicht zu unterschätzen: Während die visuelle Fokussierung der Fingerbewegungen beim Spielen oft eher hinderlich ist, lohnt es sich, die Aufmerksamkeit in Gänze auf den Bewegungseffekt, mithin auf den Klang zu lenken.
1 Kalbeck, Max (Hg.): Johannes Brahms. Briefe an P. J. Simrock und Fritz Simrock, Bd. 4, Berlin 1919, S. 107 f.
2 Burger, Ernst: Robert Schumann. Eine Lebenschronik, Mainz 1998, S. 105.
3 Grossmann, Linde: „Czerny in der zeitgenössischen Klavierpädagogik“, in: von Loesch, Heinz (Hg.): Carl Czerny. Komponist, Pianist, Pädagoge, Mainz 2009, S. 97-129, hier: S. 124; Mahlert, Ulrich: „Carl Czernys Didaktik der Virtuosität. Intention und Option“, in: von Loesch, Heinz/Mahlert, Ulrich/Rummenhöller, Peter (Hg.): Musikalische Virtuosität, Mainz 2004, S. 180-196.
4 Saxer, Marion: „Spiel- und Übeanweisungen für motorische Automatisierungsprozesse beim Instrumentalspiel. Ergebnisse der Motorikforschung in der musikpädagogischen Diskussion“, in: Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen – Konzepte – Methoden, Wiesbaden 2007, S. 229-240.
5 Wulf, Gabriele: „Attentional focus and motor learning: a review of 15 years“, in: International Review of Sport and Exercise Psychology, Vol. 6, 2013, No. 1, S. 77-104.
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