© Anne Fritzen

Fritzen, Anne

„Dafür bin ich nicht zuständig…“

Sichtweisen von Eltern auf das Üben

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2023 , Seite 20

Wie sollten Eltern ihre Kinder zu Hause beim Üben unterstützen? Aus instrumental- und gesangspädagogischer Sicht lassen sich dazu leicht Idealvorstellungen formulieren. Doch wie sieht der Übe-Alltag zu Hause tatsächlich aus? Und wie sind die Sichtweisen von Eltern auf das Üben?

In der Ecke des Musikschulcafés sehe ich eine Mutter sitzen, strickend. Ich gehe hinüber und stelle mich und das Forschungsprojekt kurz vor. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und lacht verlegen: „Dafür bin ich nicht die richtige Ansprechpartnerin. Bei uns läuft das nicht so besonders…“. Damit ist aus meiner Sicht klar: Sie ist auf jeden Fall eine gute ­Interviewpartnerin, um einen Einblick in die Sichtweisen von Eltern auf das häusliche Üben zu bekommen.
„Bei uns läuft das nicht so besonders“ ist ein Satz, den ich während der Interviews mehrfach höre, genauso wie „Also für mich ist es Stress“ oder „Ich muss immer hinterher sein“. Auch mit dem verlegenen Lachen und der vielleicht entschuldigenden oder etwas beschämten Geste ist die Mutter nicht alleine. Nur einmal höre ich, dass das Üben „frei und ohne Druck“ passiere. Insgesamt jedoch zeichnet sich ab, dass Eltern das häusliche Üben ihrer Kinder eher als schwierig wahrnehmen.
Woran genau liegt das? Insbesondere, wenn das Kind im Unterricht hervorragend mitmacht und Freude am Musizieren zeigt?1 In welcher Rolle sehen sich Eltern in Bezug auf das Üben? Welche Strategien kennen sie, um Üben erfolgreich zu etablieren? Wollen Eltern Üben zu Hause überhaupt etablieren? Und wenn nein, warum nicht? Um Antworten auf diese und weitere Forschungsfragen zu erhalten, führte ich im Dezember 2022 und Januar 2023 insgesamt 23 halbstandardisierte Leitfaden-Interviews mit Elternteilen und-paaren.2 Alsbald war klar, dass von „den“ Eltern oder „der“ Familienkonstellation nicht pauschal die Rede sein kann3 – ich sprach beispielsweise mit alleinerziehenden Elternteilen mit geteiltem Sorgerecht genauso wie mit Patchwork-Paaren und „klassischen“ Paaren. Auch zeigte sich sehr deutlich, dass sich bei Paaren beide Elternteile oft – gewollt oder ungewollt – in sehr unterschiedlichem Maß für das Üben verantwortlich fühlen oder verschiedene Aufgaben übernehmen.

Unterstützung durch die Eltern?

Dass insbesondere junge Lernende bisweilen beim Üben auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sind, dass sie von einem wertschätzenden Umgang in Bezug auf ihre musikalischen Aktivitäten profitieren und dass die Beschäftigung mit Musik zu Hause insgesamt die allgemeine musikalische Entwicklung eines Kindes fördert, ist Lehrenden wie Eltern, die ihr Kind für ein musikpädagogisches Angebot angemeldet haben, sicher bewusst. In der Praxis fallen das Ausmaß und die Art und Weise, wie Kinder von ihren Eltern beim musikalischen Lernen unterstützt werden, jedoch sehr unterschiedlich aus. Auch bewerten Lehrende eine solche Unterstützung unterschiedlich.
Dies beginnt bereits bei der Frage der Anwesenheit von Eltern im Unterricht: Während manche diese als entbehrlich betrachten, sehen andere einen Mehrwert darin, dass Eltern hierdurch Unterrichtsinhalte und -inputs zu Hause rekonstruieren können. Weitestgehend Einigkeit hingegen besteht darin, dass Eltern für ein regelmäßiges Üben Sorge zu tragen haben. Konnotiert ist dies bei einigen Lehrenden mit elterlichem Zwang, bei anderen eher mit der Anforderung, der Alltag sei entsprechend zu strukturieren.4
Aus struktureller Perspektive verspricht insbesondere das partnerschaftliche Zusammenwirken von Lehrkräften mit Eltern einen Mehrwert, sofern Eltern „bestimmte Aufgaben und Funktionen erfüllen [können], die Musikschule alleine nicht bewältigen kann“.5 Der Verband deutscher Musikschulen (VdM) formuliert in einer älteren Handreichung dazu: „Wenn Eltern ihren Kindern beim Üben helfen wollen und können, so ist dies grundsätzlich sehr zu begrüßen. Doch sollten die Eltern in jedem Fall dafür Sorge tragen, daß sie den Kindern nicht durch ein falsches Verhalten hierbei die Lust am Instrumentalspiel austreiben.“ Wesentliche Aufgabe der Eltern sei es, Lernende zum „regelmäßigen, sachgerechten Üben anzuregen“.6 Für Eltern, die ihre Kinder beim Üben unterstützen möchten, dürften sich hier mindestens zwei Fragen stellen: Was genau ist „falsches Verhalten“? Und insbesondere bei musikalisch nicht bis wenig vorgebildeten Eltern: Was bedeutet „sachgerecht“?

Zwischen Erinnerungsmemo und Einpeitscher

Aus den Interviews ging jedoch hervor: Die Bereitschaft von Eltern, Sorge für ein regelmäßiges Üben ihrer Kinder zu tragen, ist nicht immer gegeben. Dazu kommt, dass selbst bei bestehender Bereitschaft die Umsetzung nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Die elterlichen Begründungen dafür mögen aus instrumental- und gesangspädagogischer Sicht vielleicht nicht oder nur schwer nachvollziehbar sein. Betrachtet man jedoch Ergebnisse aktueller Studien zu Elternschaft heute (zitiert in Textkästen und ergänzt durch musizierpädagogische Überlegungen),7 sind einige Aussagen gut nachvollziehbar.
Worin genau sehen Eltern nun selbst ihre Aufgaben? Fragt man danach, ob überhaupt die elterliche Aufgabe besteht, zu regelmäßigem Üben anzuhalten, und wenn ja, wie diese ausgestaltet wird, zeigt sich eine große Vielfalt. Während einige Eltern, wie erwähnt, diese Aufgabe nicht sehen, verstehen sich andere z. B. als „Erinnerungsmemo“ oder als „Hilfe, den inneren Schweinehund zu überwinden“. Als Letzteres sieht sich einer der Väter und ergänzt lachend, eigentlich sei er „alles von Trainer bis Einpeitscher … ich bin wie der bei Asterix und Obelix, der auf der Galeere die Trommel schlägt“.8 Dieses Bild lässt schmunzeln, zeigt aber gleichzeitig, mit wie viel Druck bisweilen aus Elternperspek­tive zu Hause „gearbeitet“ werden „muss“, um musikalische Lernresultate zu erzielen.

1 Wie Natalia Ardila-Mantilla bemerkt, zeigen sich Üben und Unterricht nicht immer als zusammenhängendes Phänomen; Ardila-Man­tilla, Natalia: Musiklernwelten ­erkennen und gestalten, Wien 2013, S. 305.
2 Ein herzlicher Dank gilt den beiden Musikschulen, die mir das Führen der Interviews ermöglicht haben: Neue Musik Leipzig und KISUM Weimar. Mein weiterer Dank gilt Stefanie Dzjubak, die mich insbesondere bei der Transkription der Interviews maßgeblich unterstützt hat. Die Daten wurden ausgewertet nach Mayring, ­Philipp: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2015.
3 vgl. Lessing, Wolfgang: „Eltern als Partner?“, in: Busch, Barbara (Hg.): Spielraum Instrument. Neue Studientexte zur Instrumental­pädagogik, Augsburg 2014, S. 117-141, hier: S. 121.
4 vgl. Ardila-Mantilla, S. 290-294.
5 Lessing, S. 120; siehe auch Mahlert, Ulrich: „Elternarbeit an Musikschulen“, S. 2, online unter: www.musikschulen.de/medien/doks/ mk19/dokumentation/ag-17_mahlert.pdf (Stand: 16.3.2023).
6 Verband deutscher Musikschulen e. V.: „Empfehlungen für das ­instrumentale Üben der Schüler“, zit. nach Wucher, Diethard/Berg, Hans-Walter/Träder, Willi (Hg.): Handbuch des Musikschul-Unterrichts, Regensburg 1979, S. 246-349, hier: S. 348.
7 alle Zitate in Textkästen vgl. Henry-Huthmacher, ­Christine: „Eltern unter Druck“, S. 3, online unter www.kas.de/c/document_library/ get_file?uuid=3a88605f-ba73-57f7-7cf0-2b61b37a2759&groupId =252038 (Stand: 16.3.2023).
8 Die Verwendung der männlichen und weiblichen Form orientiert sich immer daran, ob die Äußerung im Interview von einem Vater oder einer Mutter getätigt wurde, schließt aber selbstverständlich ein, dass die Rolle in anderen Fällen auch vom jeweils anderen Geschlecht übernommen wird.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2023.