Kietzell, Dorothea von

Das Babuschka-Prinzip

In jeder Antwort stecken neue Fragen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2013 , Seite 14

Offene Fragen sind für mich die Motivation schlechthin, mich auf die Suche nach Ant­worten zu machen: ausprobieren, beobachten, ins Gespräch kommen, lesen – oder: auf Kurse gehen, die Antworten versprechen.

Manche methodischen, didaktischen, spieltechnischen und musikalischen Fragen bleiben auch im Studium unbeantwortet und begleiten einen in die ersten Jahre des Berufslebens. Manche löst man mit der Zeit, andere bleiben aktuell. Neue Fragen ergeben sich aus der beruflichen Praxis heraus. Seit ich meine erste Schülerin während des Studiums unterrichtete, beschäftigte mich die Frage, wie ich als Instrumentallehrerin ein inneres Hören bei Kindern im Vor- und Grundschul­alter ent­wickeln kann, das als Voraussetzung zum Violinspiel unabdingbar ist.
Ich fragte und las, probierte Verschiedenes aus, schrieb eine Diplomarbeit zu dem Thema und reflektierte immer wieder die Ergebnisse meines Unterrichtens, die mich leider oft nicht befriedigten. Ich benutzte Solmisations- und Rhythmussilben im Unterricht: Die Kinder liebten die Rhythmusspiele, was nicht unbedingt hieß, dass sie rhythmisch spielen konnten. Sie machten begeistert alle Arten von Tonleiterspielen, am liebsten ohne Inst­rument und auch nur im Unterricht, verwechselten laufend do und die leere D-Saite und beim Vom-Blatt-Singen alle Solmisationssilben, die nicht direkt über den Noten standen.
Im Vordergrund der meisten mir bekannten methodischen und didaktischen Überlegungen stand, wie musikalische Vorstellungen technisch umgesetzt werden können. Ich las alles, was in der Hochschulbibliothek zum Thema vorhanden war (z. B. Suzuki, Gordon, Nelson, Rolland), und suchte in der gängigen Unterrichts­literatur nach Antworten. Sheila Nelson brachte in ihrer Schule viele Anregungen, die fantasievoll und kreativ, aber leider nicht sehr systematisch waren. Die gängigen deutschen Schulen bezogen sich auf ein Repertoire an alten Kinderliedern, das im Alltag der Kinder kaum noch eine Rolle spielt. Wie ein Kind ohne wesentliche musi­kalische Vorbildung sich Melodien, Intervalle, Tonleitern, Dreiklänge, rhythmische Strukturen merken und zu Hause vorstellen können soll, darüber wurde wenig gesprochen.
So fiel mir im Sommer 2011 ein Artikel über Geza Szilvay, das East Helsinki Music Institute und Colourstrings auf. Dort wurde ein Einführungskurs zum Thema Colour­strings angekündigt, in dem es genau darum gehen sollte: auf kindgerechte Art Voraussetzungen zum Musizieren zu schaffen, das innere Hören, das ausdrucksvolle, erzählende Spiel, Tonschönheit, die Sicherheit im Notenlesen neben und gemeinsam mit der Leichtigkeit der Spielbewegungen zu vermitteln und systematisch zu entwickeln. Im Anschluss an die Colourstrings-Tage sollte noch ein pädagogischer Meisterkurs mit Tabea Zimmermann für Bratschenlehrkräfte und ihre (fortgeschrittenen) SchülerInnen stattfinden. Ich meldete mich sofort für beide Kurse an.
Geza Szilvay, der in den 70er und 80er Jahren zusammen mit seinem Bruder das Colour­strings-Material entwickelt und zusammengestellt hatte, leitete die Fortbildung gemeinsam mit seiner Assistentin Yvonne Frye. Die Gruppe war mittelgroß: etwa 26 TeilnehmerInnen, sodass das gemeinsame Arbeiten und Lernen ein sehr persönliches war. Wir waren selbst die „Kinder“, lasen, sangen, spielten auf unseren Instrumenten (Geige, Bratsche, Cello), unterrichteten uns gegenseitig und wurden von Geza Szilvay unterrichtet. Dabei waren durchaus ­einige unerwartete Aha-Erlebnisse zu verzeichnen, z. B. wie einfach sich Vibrato mit Flageoletts anfühlen kann oder wie Staccato funktioniert. Wir improvisierten, musizierten und lachten dabei viel – und waren natürlich immer auch „Lehrer“, analysierten den Unterrichtsstoff, sahen Videos von Unterrichtsszenen und Orchesterproben, staunten über die Einfachheit, Vollständigkeit und Konzentration des Unterrichtsmaterials. Wir waren „Musiker“ und bewunderten junge Musikerinnen und Musiker in Aufnahmen und Filmen, waren tief berührt von ihrer musikalischen Ausdruckskraft und Begeisterung. Wir wurden immer mehr eine Gruppe, angesteckt von unserer Begeisterung und der der beiden Kursleiter. Viele, sehr viele der Fragen, mit denen ich gekommen war, wurden beantwortet.
Der folgende Meisterkurs bei Tabea Zimmermann begann für mich und einige andere TeilnehmerInnen mit ­einem Kammerkonzert, bei dem auch Stücke des Kursprogramms von Tabea Zimmermann und einigen ihrer Studierenden interpretiert wurden. Bei diesem Konzert wurde sehr konzentriert und intensiv musiziert, der Reichtum an Klangfarben der Bratsche wurde weit ausgeschöpft, das Zusammenspiel war äußerst lebendig, sprühend spontan und gleichzeitig von logischer Phrasierung und deutlicher Darstellung der musikalischen Architektur. Es war wunderbar, nach diesem bewegenden Konzert noch mit den Künstlern und anderen KursteilnehmerInnen zusammenzusitzen und ungezwungen ins Gespräch zu kommen.
Die Spielpraxis und ihre Vermittlung stand ganz im Mittelpunkt des darauf folgenden pädagogischen Meisterkurses. Wir bildeten kleine Ensembles, in denen wir Kammermusik für Bratschen miteinander übten und uns gegenseitig vortrugen. Ein Ensemble spielte mit Tabea Zimmermann gemeinsam und wurde gleichzeitig von ihr unterrichtet. Einzelne KursteilnehmerInnen erhielten vor allen anderen Einzelunterricht. Tabea Zimmermann erläuterte anhand der Beispiele technische oder musika­lische Details, gab praktische Hinweise zum Üben und Unterrichten. Auch bei diesem Kurs wurden zwar viele Fragen beantwortet, mehr im Vordergrund standen für mich aber Hör- und Klangerlebnisse, Ins­piration und Anregungen, Bilder und das gemeinsame Musizieren.
Fortbildung, so wie ich sie erlebt habe, ist etwas sehr Besonderes. Die Möglichkeit, Neues aus erster Hand zu erlernen, ist fantastisch. Die entspannte und rundum wohlversorgte Campus-Atmosphäre eines Fortbildungshauses hilft einer Gruppe enorm beim Zusammenwachsen, bietet auch zwischen den Lehrveranstaltungen viele Möglichkeiten zum persönlichen Kennenlernen, zu Gespräch und Austausch, zum Lernen aus den Erfahrungen anderer, zum Weitergeben eigener Impulse und zum Pläne schmieden. Auch mit den KursleiterInnen kann man zwanglos und einfach ins Gespräch kommen. In einer gut ausgestatteten Bibliothek können Unermüdliche weiterführende Literatur zum Vertiefen, Ergänzen und Erweitern des Gelernten finden. So können Fortbildungen zu einer ganz eigenen Inspirationsquelle werden. Freundschaften entstehen: Ein Besuch in Finnland fand inzwischen statt, weitergehende Pläne wurden geschmiedet.
Und wieder ergeben sich im Laufe der Unterrichts- und Musizierpraxis neue Fragestellungen. Antworten werden gesucht durch Ausprobieren, Beobachten, in Gesprächen, durch Lesen und Recherchieren – und durch den Besuch von Kursen, die Antworten versprechen.

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