Nowak, Sibylle

Das Eigene und das Fremde verstehen lernen

Das European Pupils Composition Project „Landscapes“ des ­Mendelssohn Kammerorchesters Leipzig verbindet vier europäische Schulen

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 2/2010 , Seite 40

Verteilt in Grüppchen sitzen sie sich fremd gegenüber: Schülerinnen und Schüler aus Ungarn, Polen und Deutschland. Sie sind zwischen zwölf und 16 Jahre alt und kommen mit den unterschiedlichsten Vorerfahrungen. Manche können kaum Noten lesen, andere bestreiten bereits Wettbewerbe oder spielen in einer Punkband.
Bereits zum sechsten Mal initiierte das Mendelssohn Kammerorchester Leipzig mit dem Leipziger Komponisten Steffen Reinhold das Projekt „Schüler komponieren“. Die bisherigen Ergebnisse sind eindrucksvoll. Daher fördern derzeit die Comenius-Stiftung, die Stadt Leipzig und die Rahn Dittrich Group eine zwei­jährige Arbeitsphase, in der der interkulturelle Austausch von vier Schulen aus drei Ländern im Mittelpunkt steht. Das Gymnasium und Internat im Kloster Stift Neuzelle bietet den Rahmen für das ers­te gemeinsame Treffen der insgesamt 29 Jugendlichen im Februar 2010. Sie werden angeleitet von den Komponisten Steffen Reinhold (Leipzig), Sebastian Elikowski-Winkler (Berlin), Márton Levente Horváth (Budapest), Slawek Kozlowski (Zielona Góra) sowie von vier Musikern des Mendelssohn Kammerorchesters Leipzig.
„Wir möchten, dass die Schüler durch den kreativen Umgang mit Musik, anderen Kunstformen, Sprachen und modernen Medien das ,Eigene‘ und das ,Fremde‘ besser verstehen lernen. Sie können dabei gemeinsame kulturelle Wurzeln entdecken und auch ihre eigene kulturelle Identität erfahren. Die Musik soll in diesem Projekt das wichtigste Kommunikationsmittel sein. Wenn die Schüler die Musik selbst erfinden, so ist das Ergebnis ein sehr persönliches, individuelles und damit authentisches“, so Steffen Reinhold.
Dennoch braucht es zahlreiche musikalische und sprachliche Spiele, Arbeit in gemischten Gruppen und das Gestalten einer gemeinsamen Collage aus Fotos aller TeilnehmerInnen, bis die anfängliche Scheu untereinander einem regen Austausch weicht. „Wir saßen zusammen im Kreis und haben uns in vier Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe hatte einen anderen Rhythmus improvisiert. Dabei mussten wir dann die Augen schließen und wenn jemand meinte, jetzt müsste er ein Solo einlegen, hat er das eben gemacht. Es war eine richtige Karawane, die durch eine Wüste zieht. Es hat sich wirklich wie ein einstudiertes Stück angehört. Danach haben wir uns in unsere Kompositionsgruppen zurückgezogen und komponiert. Wir haben von Dora Ombodi Eindrücke von den Spieltechniken der Querflöte bekommen. Sie hat uns ganz ulkige Sachen gezeigt, die man mit der Querflöte anstellen kann“, schreibt Milena ins Online-Tagebuch.
Gruppen- und Einzelarbeit sowie Vorspielen der ersten Versuche im Plenum wechseln sich ab. Manche nehmen ihre Instrumente zur Hilfe, andere das Klavier, wieder andere arbeiten mit Computer und Notenprogramm oder loten gemeinsam mit den MusikerInnen die Spielmöglichkeiten der jeweiligen Instrumente aus. „Wir haben in diesen Tagen viel geschafft. Als alle wieder in ihren Heimatstädten angekommen waren, wurde noch am selben Abend über das Internet Kontakt in die anderen Länder aufgenommen. Ich freu mich auf ein Wiedersehen im Mai“, schreibt Laura
Denn im Mai müssen alle Partituren fertig sein. Vier Tage werden die SchülerInnen zunächst die Gelegenheit erhalten, mit dem Dirigenten und Geiger Gunnar Harms sowie dem Orchester zu proben, ihre Vorstellungen in die Interpretation einzubringen und die Stücke zum ersten Mal live zu hören. Und noch ein neuer Aspekt tritt in dieser Phase hinzu. „Uns ist wichtig, dass die Schüler ihre eigene Musik auch professionell, persönlich und originell präsentieren“, so Gregor Nowak, Solocellist und Leiter des Mendelssohn Kammerorchesters Leipzig. Bereits im Vorfeld erhalten sie dazu einen Moderations- und Rhetorikworkshop. Dort setzen sie sich mit Vortrags- und Präsentationstechniken auseinander, arbeiten mit Videofeedback und finden schließlich ihr selbst entwickeltes Kommunikationskonzept.
Über zwei Jahre erhalten die Jugendlichen an der Leipziger Thomasschule, dem Gymnasium im Stift Neuzelle, dem Europäischen Gymnasium Dr. P. Rahn & Partner in Zielona Góra und der Fachschule für Gastronomie und Tourismus in Budapest Kompositionsunterricht und bleiben dabei in ständigem Kontakt miteinander. Sie improvisieren und experimentieren, bevor sie damit beginnen, eine Komposition für das Mendelssohn Kammerorchester Leipzig zu schreiben. Der renommierte Klangkörper gestaltet im Leipziger ­Gewandhaus eine eigene Konzertreihe, die „Konzerte für Neugierige“. Die Nachhaltigkeit ist dem Orchester in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dabei besonders wichtig.
Nach den Konzerten werden die Stücke überarbeitet und eine CD wird entstehen. Die umfangreiche Dokumentation mit sendefähigem Material von Workshop und Tournee sowie Tagebücher und Auswertungen werden nach dem Abschluss des Projekts einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. „Wir möchten nicht nur Impulse setzen, sondern Prozesse begleiten“, so Gregor Nowak. Denn für die meisten SchülerInnen ist dieses Projekt die erste intensive Auseinandersetzung mit neuer Musik.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2010.