Carl Orff, ca. 1965

Wirmer, Hannah

Das Elementare

Zum Ursprungsdenken im Sprechen über das Elementare in der Musikpädagogik

Rubrik: Diskussion
erschienen in: üben & musizieren 3/2021 , Seite 36

Elementares Musizieren oder Elementare Musik wird oft als natürlich, ursprünglich oder menschlich bezeichnet. Doch woher kommt diese Vorstellung? Eine historisch ausgerichtete Dissertation untersucht die Entwicklung dieser ­Vorstellung durch eine Diskursanalyse, aus der im Folgenden Teilergebnisse vorgestellt werden.

Elementares sei „als das ursprünglich Hervorbringende zu verstehen“,1 schreibt Ulrike Jungmair, während Ruth Schneidewind Elementares Musizieren als „offen für das, was musikalisch aus den Teilnehmern selbst entstehen will“ beschreibt.2 In Zitaten wie diesen klingt an, dass mit dem Wort „elementar“ in musikpädagogischen Zusammenhängen ein besonderer Umgang mit Musik verbunden wird. Ein Merkmal dieses Begriffsverständnises des Elementaren ist die Vorstellung von einem als ursprünglich beschriebenen Verhältnis von Mensch und Musik. Diese Annahme ist nicht neu und vor allem kein Produkt alleine des heutigen Sprechens und Schreibens z. B. in der Elementaren Musikpädagogik. Vielmehr kann man ähnliche Aussagen über das Elementare zu ganz unterschiedlichen Zeiten wiederfinden.
Um ähnliche Aussagen über etwas, einen „Diskurs“, zu unterschiedlichen Zeiten zu untersuchen, hat sich in historischen Arbeiten die Methode der sogenannten Diskursanalyse etabliert. Mittels der Diskurs­analyse sollen hier Aussagen über das Elementare und die darin zum Ausdruck gebrachten Vorstellungen vom Verhältnis von Mensch und Musik in historischer Pers­pektive genauer beleuchtet werden. Auf diese Weise soll eine Grundlage dafür geschaffen werden, das heutige musikpädagogische Sprechen über das Elementare kritisch beurteilen zu können. Dies kann einen Beitrag dazu leisten, die „Fragezeichen und Widersprüche“,3 die Franz Niermann dem Umgang mit dem Begriff in Fachkreisen bereits vor 20 Jahren attestierte, ein Stück weiter aufzulösen.

Aussagen über ein Elementares in historischer Perspektive

Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ist bei Carl Orff und seiner Kollegin Dorothee Günther an der Günther-Schule in München von einer Elementaren Musik und einer Elementaren Musikerziehung die Rede. Orffs Schulwerk und die darin dargestellte Musizierpraxis des improvisatorischen Umgangs mit Musik, Bewegung und Sprache hat bis heute Einfluss auf die Praxis und die akademische Diskussion der Elementaren Musikpädagogik, da deren Wurzeln von verschiedenen AutorInnen in den Schriften und musikdidaktischen Konzepten Carl Orffs gesehen werden.4
Geprägt sind Orffs und Günthers Über­legungen vor allem von einer Hin- oder Rückwendung zu einem vermeintlich ursprünglichen Umgang mit Musik. Diese Vorstellung lässt sich anhand der folgenden vier Aussagen aufzeigen, die sich in den analysierten Texten wiederholen. In der Darstellung wird deutlich, dass sich diese Aussagen nicht strikt voneinander trennen lassen, da sie sich sowohl gegenseitig bedingen als auch in der Argumentation miteinander verwoben sind. Die folgende Gliederung ist daher eher als Schwerpunktsetzung zu verstehen.

1. Es gibt menschliche Urkräfte, zu denen eine musikalische Kraft zählt.
In den Texten wird immer wieder von einer Musik gesprochen, die man nicht lernen müsse, sondern „die jeder Mensch in sich trägt“.5 Die AutorInnen gehen jedoch davon aus, dass diese (musikalischen) Urkräfte aufgrund der „Verbildung“ durch die moderne Gesellschaft verschüttet seien. Kindern, so die Überzeugung von Orff und Günther, seien diese Urkräfte durch ihre spielerische Welterfahrung noch nah.6 Ausgesprochenes Ziel der Musikerziehung müsse daher die Wiederaufnahme dieses ursprünglichen Elementaren Musizierens sein, um sogenannte menschliche Urkräfte wieder verfügbar zu machen.7

2. In ihrer Urform bildet Musik eine Einheit mit Bewegung und Sprache.
Erst im Laufe einer kulturellen Entwicklung sei die Einheit von Musik, Bewegung und Sprache getrennt worden.8 Diese Trennung wird als Verfallserscheinung betrachtet und soll durch den elementaren Zugang rückgängig gemacht werden. Der Rhythmus als – so nimmt man an – Musik, Bewegung und Sprache einendes Element wird in diesem Zusammenhang als „Ursprung“ oder „Kraftquelle“9 bezeichnet. Auch hier ist es das „unverbildete Kind“, in dem das Idealbild der Einheit von Musik, Bewegung und Sprache noch zu beobachten sei. Dessen spielerischer, rhythmischer Umgang mit Musik könne demnach zum Vorbild für die Wiedervereinigung der Bereiche genommen werden.

1 Ulrike Jungmair: Das Elementare. Zur Musik- und Bewegungserziehung im Sinne Carl Orffs. Theorie und Praxis, Mainz 1992, S. 136.
2 Ruth Schneidewind: Die Wirklichkeit des ele­mentaren Musizierens, Wiesbaden 2011, S. 37.
3 Franz Niermann: „Vorwort“, in: Franz Niermann (Hg.): Elementare musikalische Bildung, Wien 1997, S. 5.
4 z. B. Jungmair; Schneidewind.
5 Carl Orff: „Musik aus der Bewegung“ [1932], in: Barbara Haselbach (Hg.): Studientexte zu Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks, Mainz 2011, S. 101 f.
6 vgl. Dorothe Günther: „Der rhythmische Mensch und seine Erziehung“ [1932], in: Haselbach, S. 83.
7 Carl Orff: „Gedanken über Musik mit Kindern und Laien“ [1932], in: Haselbach, S. 77.
8 vgl. z. B. Carl Orff: „Das Schulwerk – Rückblick und Ausblick“ [1963], in: Haselbach, S. 147.
9 siehe Anm. 5.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2021.