Schmitt-Weidmann, Karolin
Das „Transformer“-Modell
Musikschule und Musikhochschule als lernende Praxisgemeinschaft
Musikhochschulen und Musikschulen müssen mehr sein als isolierte Orte der Kompetenzvermittlung. Indem sie lern- und gemeinschaftsförderliche Umgebungen bereitstellen, die auch über die eigenen institutionellen Grenzen hinauswirken, können sie vorleben, wie produktiv zusammengearbeitet wird.
Wie sehen die Lernsettings der Zukunft aus? Dieser Frage widmen sich seit einigen Jahren verstärkt zahlreiche Veröffentlichungen zur Lehrentwicklung an Hochschulen und Universitäten. Das Hochschulforum Digitalisierung hat im Mai 2019 eine Schrift mit dem Titel AHEAD – Internationales Horizon-Scanning: Trendanalyse zu einer Hochschullandschaft in 2030 herausgegeben.1 Darin werden vier unterschiedliche Lernwege mit Hilfe von Spielzeugen illustriert:
1. Tamagotchi: Dieser Lernweg, der vielen Studierenden vertraut erscheinen mag, zielt auf eine grundlegende und umfassende Vorbereitung auf die anschließende Erwerbstätigkeit. Die Hochschule fungiert als ein geschlossenes Ökosystem, das Studierende beim Absolvieren eines Studiengangs engmaschig führt, unterstützt und fördert.
2. Jenga: Nachdem Studierende im Erst-Studium ein solides Fundament an Wissen und Kompetenzen angelegt haben, können darauf weitere Bildungsbausteine aufgebaut werden. Diese zusätzlichen, in sich abgeschlossenen Blöcke (bzw. Qualifikationen) können bei verschiedenen Bildungsanbietern erlangt und gesammelt werden. (Insbesondere an Jenga zeigt sich, dass die hier verwendeten Metaphern nur eine grobe Orientierung bieten: Während beim Jenga-Spiel Türme gebaut werden, denen nach und nach Steine entnommen werden, bis sie einstürzen, können einmal absolvierte Bildungsbausteine normalerweise nicht mehr entzogen und Bildungstürme auch kaum zum Einsturz gebracht werden.)
3. Lego: Bei diesem Modell wird ein Studium nicht als eine kompakte Einheit an einer Hochschule absolviert. Vielmehr zielt Lego bewusst auf die individuelle Auswahl und Kombination von einzelnen Bausteinen unterschiedlicher Größe bei unterschiedlichen Bildungsanbietern. Die Lernenden entscheiden eigenverantwortlich, welche Lerneinheiten sie durchlaufen möchten. Die Aufgabe der Hochschulen besteht – neben der Bereitstellung der Lerneinheiten – darin, diese Einheiten wechselseitig anzuerkennen.
4. Transformer: Dominic Orr et al. beschreiben diesen Lernweg wie folgt: „Die Studierenden in diesem Modell wechseln nicht direkt als Schulabgänger*innen an die Hochschule, sondern haben bereits eine eigene Berufsidentität und Lebenserfahrung erworben. Sie kommen später im Lebenslauf an die Hochschule, wo sie diese Lebenserfahrung auch in das Studium einbringen wollen. Sie brauchen ein flexibles Studium, das zwischen didaktischer Fremd- und Selbstbestimmung alterniert.“2
Diese vier Lernwege scheinen unterschiedliche Gewichtungen an Selbst- und Fremdsteuerung vorauszusetzen und einzufordern. Sie versuchen, unterschiedlichen Altersgruppen, Lern- und Lebenserfahrungen, (Bildungs-) Biografien und Selbstwirksamkeitserwartungen gerecht zu werden, die sich aus einer individuellen Passung an instruktiven und konstruktiven Elementen ergeben. Was können wir daraus für die Lehrentwicklung an Musikschulen und Musikhochschulen lernen?
Vernetzung und Kollaboration
Zunächst ist festzustellen, dass alle vier Modelle bereits existieren: Während sich Tamagotchi in festgeschriebenen Lehr- und Studienplänen wiederfindet, können konsekutiv angeordnete Phasen bzw. Stufen (beispielsweise des VdM-Strukturplans) über grundständige bis hin zu postgradualen Studienzyklen und Zusatzzertifikaten als Jenga-Bausteine angesehen werden. Lego ließe sich mit Auslandssemestern, MOOCs3 oder Micro-Credentials4 assoziieren, während Transformer vorwiegend in den Fort- und Erwachsenenbildungsangeboten von Hochschulen, wie beispielsweise bei Gasthörerschaft, anzutreffen ist. Grundsätzlich können alle vier Lernwege erst in einer Kombination ihr volles Potenzial entfalten. Es gibt nicht den einen perfekten Lernweg, der auf alle Lernenden lebenslang passt. Die Stärke der Modelle liegt in ihrer Flexibilität und Anpassungsmöglichkeit, um eine optimale Ausgewogenheit zwischen Neugier, Selbststudium, Kompetenzaufbau, Wissensvermittlung und Anwendungsmöglichkeiten zu erreichen.
Musikhochschulen können dabei Orte darstellen, die nicht nur für eine begrenzte Zeit des Studiums, sondern – im Sinne des „Transformer“-Modells – lebenslang offen stehen für einen interaktiven Austausch mit externen PartnerInnen in Kultur und Gesellschaft.
Die Leitfiguren der Vernetzung und Kollaboration durchziehen wie ein grundlegender Tenor aktuelle Bildungsdiskurse und werden als Inbegriff einer zukünftigen Ausgestaltung von Lehren und Lernen an Hochschulen begriffen. Interinstitutionelle Kollaborationen können richtungsweisend für die Heranbildung verantwortungsvoller Gesamtpersönlichkeiten sein, die in transdisziplinären Kontexten nicht nur die zukünftige Kulturszene, sondern auch das gesellschaftliche Zusammenleben mitgestalten.
Dabei lohnt sich ein Blick auf die Potenziale, die das vierte Modell – Transformer – mit sich bringt: Bildung wird hier als lebenslanger Prozess begriffen. Im Angesicht einer von beschleunigtem Wandel geprägten Gesellschaft sowie einer Vielzahl von komplexen Herausforderungen, die musikalische, didaktische, soziale und persönliche Ebenen betreffen, scheint lebenslanges Lernen notwendiger denn je. Im Rahmen der Idee einer Durchlässigkeit tertiärer Bildungsangebote im Sinne des Transformer-Modells werden Berufsfähigkeit und -tätigkeit weniger als Ergebnis von geradlinig-linearen Studienverläufen verstanden. Vielmehr möchte eine individuelle und lebenslange Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Berufs- und Rollenbildern Transformationsprozesse anregen, die gewinnbringend in individuelle Bildungsbiografien integriert werden können.
Diese Prozesse müssen von Lehrenden individuell begleitet und von Institutionen wie Musikschulen und Musikhochschulen strukturell unterstützt werden.5 Im Rahmen lebenslanger Lernprozesse erschließen MusikerInnen im Lauf der Zeit ständig neue Lego-oder Jenga-Bausteine, um in vielfältigen Kontexten und Tätigkeitsfeldern ihr Berufsleben in ständiger flexibler Anpassung bewältigen zu können und die eigene Künstlerpersönlichkeit frei und kreativ weiterzuentwickeln. Musikhochschulen können dabei Orte darstellen, die nicht nur für eine begrenzte Zeit des Studiums, sondern – im Sinne des Transformer-Modells – lebenslang offen stehen für einen interaktiven Austausch mit externen PartnerInnen in Kultur und Gesellschaft.
Dabei können verschiedene Personengruppen wie beispielsweise Studierende und Musikschullehrkräfte nicht nur miteinander, sondern auch voneinander lernen und sich gegenseitig bereichern. Personen aus musikbezogenen Berufen sowie aus verwandten Berufsfeldern können somit vielfältige Berufs- und Lebenserfahrungen in die Lernsettings an Hochschulen einbringen, Kooperationen zu externen PartnerInnen initiieren und einen Transfer in die Kulturszene gestalten. Die Öffnung von Lehrveranstaltungen kann nicht nur für die Erwachsenenfort- und -ausbildung auf der einen, sondern auch für die Nachwuchsförderung auf der anderen Seite nutzbar gemacht werden, was flexible und frei kombinierbare Angebote mit möglichst hoher Wahlfreiheit erforderlich macht. Studierende und externe Kulturschaffende übernehmen dabei gemeinsam mit Lehrenden an Musikhochschulen die Verantwortung für die individuelle Gestaltung von Bildungswegen.6
Kooperation in Stuttgart
Nach dem Vorbild des Transformer-Modells hat die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart aus dem Studienbereich Instrumental- und Gesangspädagogik heraus zusammen mit der Stuttgarter Musikschule eine Kooperationsreihe ins Leben gerufen, in welcher Studierende mit Lehrkräften und Lernenden der Musikschule in Austausch gebracht werden: Im Rahmen der regulär stattfindenden Hochschulseminare wird pro Semester mindestens eine Sitzung in die Räumlichkeiten der Musikschule verlagert und geöffnet, um ein gemeinsames Lernen zu initiieren. Diese Gemeinschaftssitzungen, zu der Lehrkräfte, SchülerInnen und Eltern der Musikschule eingeladen werden, widmen sich unterschiedlichen praxisnahen Themen wie beispielsweise Service Learning, Feedback, Umgang mit Fehlern, Üben, Teamteaching oder Demokratiepädagogik, die jeweils sowohl in die Seminardramaturgie eingebettet sind als auch als in sich abgeschlossene Workshops besucht werden können.
Die Resonanz seitens der Studierenden und Lehrenden der Musikschule ist überaus positiv, wobei der gegenseitige Austausch als enorm bereichernd und horizonterweiternd empfunden wird. In Seminarevaluationen wurde dieses Format von Studierenden überwiegend als Highlight des Seminars herausgestellt. Während Musikschullehrkräfte auf diese Weise mit aktuellen einschlägigen Themen und dem neuesten Forschungsstand in Kontakt bleiben, welcher an Musikhochschulen vermittelt und weiterentwickelt wird, profitieren Studierende und Lehrende an Musikhochschulen von der sehr vielschichtigen Berufs- und Praxiserfahrung der Musikschullehrkräfte. Im Sinne eines hierarchiefreien Geben-und-Nehmens kann die Idee eines gemeinschaftlichen lebenslangen Lernens in solchen Settings mit unterschiedlichen Generationen und Bildungsbiografien in besonderer Weise zum Tragen kommen.
Eine Erweiterung auf weitere Musikschulen und Kulturinstitutionen in der Stadt und im Umkreis ist in Planung – mit dem Ziel, ein lebendiges Netzwerk für fachlichen Ideenaustausch aufzubauen, das sich ganz selbstverständlich als interinstitutionelle Familie versteht. Auf diese Weise können Musikschulen und Musikhochschulen ein neues Verständnis als lernende und vernetzte Institutionen erlangen und ihre Strahlkraft in die Gesellschaft erhöhen.
Potenzial von Praxisgemeinschaften
Musikschulen und Musikhochschulen leisten – wie jede andere Bildungsinstitution auch – einen zentralen Beitrag zu zukünftiger Entwicklung, indem sie MultiplikatorInnen oder „change agents“ der Kultur und Gesellschaft von morgen heranbilden.7 Ist die Atmosphäre zwischen Institutionen, in internen Kollegien sowie zwischen Lehrenden und Lernenden von Spannungen, Konkurrenz- und Machtkämpfen geprägt, lassen sich kaum gelingende Kollaborationen entwickeln und ausbauen, welche als zentrale Voraussetzung für transformative Prozesse angesehen werden. Es gilt somit, eine Kultur des Miteinanders an Musikhochschulen und Musikschulen zu etablieren, welche eine Dominanz hierarchisch geprägter Rollenzuschreibungen zugunsten übergeordneter gemeinsamer Ziele – auch im Hinblick auf eine Stärkung der Position von Kunst und Kultur in der Mitte der Gesellschaft – aufgibt.
Synergieeffekte können nur in einer hochflexiblen strukturellen Umgebung entstehen. Musikhochschulen und Musikschulen müssen sich beiderseits als stetig lernende und miteinander vernetzte Organisationen in einem gemeinsamen Reflexions- und Veränderungsprozess begreifen. Lehren und Lernen kann nur in offen gestalteten Systemen florieren, welche die Kreativität der einzelnen Lehrenden und Lernenden hinsichtlich der Gestaltung ihrer Lehr-Lern-Umgebungen unterstützen.
Bei produktiver Zusammenarbeit von Musikhochschulen und Musikschulen kann das Potenzial von Praxisgemeinschaften erlebt werden, indem alle Beteiligten jenseits eines Hierarchiegefälles zwischen WissensträgerInnen und -empfängerInnen nicht nur miteinander, sondern insbesondere auch voneinander lernen. Kollaborativ angelegte Lernsettings, die auch Teamteaching und Peerlearning beinhalten, können auf diese Weise für zukünftige Generationen schließlich zum Selbstverständnis werden, indem Lernende ihre Teamfähigkeiten in berufliche und gesellschaftliche Zusammenhänge weitertragen und somit als MultiplikatorInnen für gelingende Kollaborationen in Erscheinung treten. Nur indem sich Musikschulen und Musikhochschulen als lernende, gemeinschaftliche und offene Organismen verstehen, können Interaktion und Kollaboration gedeihen und kann gesellschaftliche Wirkungskraft erzeugt werden.
1 Orr, Dominic/Lübcke, Maren/Schmidt, Philipp/Ebner, Markus/Wannemacher, Klaus/Ebner, Martin/Dohmen, Dieter: AHEAD – Internationales Horizon-Scanning: Trendanalyse zu einer Hochschullandschaft in 2030, hg. vom Hochschulforum Digitalisierung, Nr. 42, Mai 2019, https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/ahead-–-internationales-horizon-scanning-trendanalyse-zu-einer-hochschullandschaft-2030 (Stand: 30.10.2024); vgl. auch OECD (Hg.): OECD Lernkompass 2030. OECD-Projekt Future of Education and Skills 2030 – Rahmenkonzept des Lernens, 2020, www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/oecd-lernkompass-2030-all (Stand: 30.10.2024).
2 Orr et al., AHEAD – Internationales Horizon-Scanning, a. a. O., S. 14.
3 Ein MOOC (Massive Open Online Course) ist ein Online-Kurs, der sich an viele TeilnehmerInnen richtet und offen für alle ist.
4 Als Micro-Credential bezeichnet man einen kompakten Bildungskurs bzw. die Teilnahme daran.
5 vgl. Association Européenne des Conservatoires, Académies de Musique et Musikhochschulen (AEC): Instrumental- und Gesangslehrerausbildung: Europäische Perspektiven, hg. von der Polifonia-Arbeitsgruppe für Instrumental- und Gesangslehrerausbildung, 2010, S. 15, https://aec-music.eu/publication/aec-handbook-instrumental-und-gesangslehrerausbildung-europaische-perspektiven (Stand: 30.10.2024); Lessing, Wolfgang: „Lebenslanges Lernen als Aufgabe und Herausforderung für Musikhochschulen“, in: Gembris, Heiner/ Herbst, Sebastian/Menze, Jonas/Krettenauer, Thomas (Hg.): Lebenslanges Lernen in der Musikpädagogik. Theorie und Praxis, Münster/Berlin 2021, S. 69-90, hier: S. 81.
6 vgl. Schmitt-Weidmann, Karolin: „Raus aus dem Elfenbeinturm! Gestaltung von Kultur und Gesellschaft als Aufgabenfeld und Bildungsmission von Musikhochschulen“, in: üben & musizieren.reseach, 2023, S. 1-22, www.uebenundmusizieren.de/artikel/schmitt-weidmann (Stand: 30.10.2024).
7 vgl. Hochschulrektorenkonferenz (HRK)/Deutsche UNESCO-Kommission (DUK): „Hochschulen für nachhaltige Entwicklung. Erklärung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) zur Hochschulbildung für nachhaltige Entwicklung“, 2009, www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/hochschulen-fuer-nachhaltige-entwicklung (Stand: 30.10.2024).
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2024.