Thielemann, Kristin
Das Üben von morgen
Netzwerkbasiertes Lernen, Flipped Classroom und projektorientierter Unterricht
Haben sich die Lerngewohnheiten von Schülerinnen und Schülern durch den Einfluss digitaler Medien verändert? Welche Lernbedürfnisse sollten wir Lehrkräfte kennen, damit Kinder und Jugendliche von morgen unseren Unterricht als Bereicherung wahrnehmen und motiviert üben?
Sicher kennen Sie diese Situation: In der Unterrichtsstunde blättern wir die nächste Seite der Instrumentalschule auf und vermitteln die abgedruckten Inhalte nach allen Regeln der Kunst. Darin sind wir fit, denn wir haben diesen Lernschritt möglicherweise schon mit vielen SchülerInnen vollzogen. Wir haben uns wirksame Erklärungen zurechtgelegt, unsere didaktischen Wege sind erprobt und unsere Witze zu diesem Lerninhalt haben schon Generationen von Kindern zum Lachen gebracht. Gelegentlich könnte jedoch das Gefühl von Fließbandarbeit aufkommen, wenn wir einen Lerninhalt dem x-ten jungen Menschen erklären. „Das ist nun einmal unser Beruf!“, denken wir uns.
Kindern und Jugendlichen sind diese Lernsettings zwar aus der Schule bekannt, aber wenn man sich ihr Medienverhalten anschaut1 und es mit dem Fachwissen vergleicht, das junge Menschen vielfach in einzelnen Wissensgebieten haben, muss es doch auch noch andere hochwirksame Lernmethoden geben.
„Woher weißt du denn so viel über die Weltgeschichte?“, will ich von meiner Schülerin Gianna wissen, als wir beim Stichwort Barockmusik auf das Europa im 17. Jahrhundert zu sprechen kommen. „Habt ihr das im Geschichtsunterricht durchgenommen?“, mutmaße ich. „Nicht wirklich. Ich habe YouTube geschaut“, gibt sie zurück. „Da gibt es einen coolen Kanal. Musst mal schauen.“ Und via AirDrop schickt sie mir eine Playlist, die mich noch ganze Abende beschäftigen wird. Ich bekomme Lernimpulse von meiner Schülerin, die sich in teilweise ungewöhnlichen Bereichen via Internet kleine Wissensinseln angeeignet hat. Wenn ich bereit bin, meine Schülerin in ihren Spezialgebieten als Impulsgeberin wahrzunehmen und ihr Wissen zu würdigen, fällt es ihr umgekehrt leichter, mich als Spezialistin auf meinem Fachgebiet, der Musik, zu akzeptieren.
Giannas Lerngewohnheiten haben sich vom „Lernen im System“ zum „Lernen im Netzwerk“ gewandelt. Im System Schule ist es so vorgesehen, dass eine Fachperson (Lehrkraft) die Übersicht behält, die Lerninhalte vorgibt, Wege auswählt, lenkt und den Fortschritt bewertet. Als „Leitwolf“ steht die Lehrkraft in der Gruppenhierarchie oben. Schon allein im Begriff „unterrichten“, welcher aus dem Mittelhochdeutschen stammt und etwa seit dem 15. Jahrhundert geläufig ist, ist die Definition der Lehrerrolle der vergangenen Jahrhunderte versteckt: Menschen, die unter einem stehen, zu belehren, über sie zu richten – „unter-richten“. Das ist ganz sicher nicht mein Verständnis meines Berufsbilds und auch nicht meine Philosophie als Musikpädagogin.
Lernen im Netzwerk
Wenn wir uns anschauen, wo sich Menschen heute schnell und intrinsisch motiviert Wissen aneignen, fällt auf, dass es vielfach über Netzwerke geschieht: Im Austausch mit anderen kompetenten Personen teilen wir unser Wissen. Einerseits nutzen wir Bücher und Zeitschriften für den Wissensaufbau, zur Selbstverständlichkeit geworden sind aber ebenso Lernplattformen, Internetforen, Online-Akademien, Webinar-Anbieter, YouTube-Kanäle, sogar Instagram-Reels, die uns etwa in die Geheimnisse der asiatischen Küche, der Medizin, des Handwerkens oder des Mentaltrainings einweisen.
Vor allem mit der omnipräsenten Verfügbarkeit des Internets mit seinen vielfältigen Lern- und Vernetzungsmöglichkeiten hat die Lehrkraft ihre Rolle als alleinige Wissensvermittlerin verloren – auch in der Musikpädagogik. Müssen wir also in Zukunft stärker auf Netzwerklernen setzen, um die „Lernsprache unserer SchülerInnen“ zu sprechen? Oder sind es die Lernenden, die sich uns und unseren Gepflogenheiten anpassen müssen? Und wenn wir virtuos mit beiden Lernsettings umgehen möchten, welche Strategien können wir für das Netzwerklernen nutzen? Mir gefallen als Lernsetting besonders die Strategien des Flipped Classroom Learnings, welche – konsequent über einen gewissen Zeitraum eingesetzt – SchülerInnen sehr häufig dazu bringen, sich zuhause zeitintensiver und inhaltlich tiefergehend mit ihrem Instrument zu beschäftigen. Wie aus dem Flipped Classroom Learning ganze Projekte entstehen können, möchte ich im Folgenden an einem Beispiel darlegen.
Flipped Classroom Learning
Hausaufgaben werden im klassischen Frontalunterricht der allgemeinbildenden Schule meist dazu genutzt, Abläufe oder Inhalte zu vertiefen, die zuvor im Unterricht erarbeitet wurden. Auch wir MusikpädagogInnen kennen diese Herangehensweise aus unserem Unterricht: Wir stellen einen Inhalt wie beispielsweise ein neues Musikstück vor, demonstrieren Übetechniken, haben vielleicht noch kurz Zeit, damit der Schüler es ausprobieren kann, und geben die Hausaufgabe, daheim fleißig an diesem Werk zu feilen.
Die Lerngewohnheiten von Kindern und Jugendlichen haben sich vom „Lernen im System“ zum „Lernen im Netzwerk“ gewandelt.
Durch das Internet beliebt geworden ist die Technik des „Flipped Classroom“, die sich auch für den Musikunterricht eignet. Der Begriff „to flip“ (engl.) steht für umdrehen, wenden oder umkehren. In diesem Fall ist die Umkehrung der klassischen Lernorte Schule (als Ort des Erklärens) und Zuhause (als Ort des Übens) gemeint. Beim Flipped Classroom Learning wird, häufig unter Zuhilfenahme von Video-Tutorials, von den SchülerInnen selbstständig (meistens zuhause) ein Inhalt erarbeitet oder entdeckt, der anschließend im Unterricht vertieft und geübt wird.
Als Lehrkraft stehen wir vor der Herausforderung, dass wir für den erfolgreichen Einsatz des Flipped Classroom Learnings geeignetes Material zum Selbstlernen bereitstellen müssen. Hierzu eignen sich einfache Tools wie YouTube-Playlists, Filehosting-Dienste wie etwa Dropbox oder auch schlichte digitale Notizblätter, auf denen der Link eines Videos abgespeichert und mit den Lernenden geteilt wird. Auch in Microsoft Teams abgelegte Ergänzungsinhalte oder Moodles2 sind denkbar. In meinem Unterricht nutze ich eine digitale Lernplattform,3 auf der es einen allgemeinen Bereich gibt, zu dem jede Schülerin und jeder Schüler Zugang hat: Dort gibt es nach Themen geordnete virtuelle Räume, die betreten werden können. Ergänzend habe ich für alle digital affinen SchülerInnen jeweils einen eigenen Lernraum eingerichtet, auf dem ich Material und Ergänzungsinhalte zu ihrem Unterricht ablege.
1 vgl. hierzu JIM-Studie 2022, www.mpfs.de/studien/ jim-studie/2022 (Stand: 27.2.2023).
2 Moodle steht für Modular Object-Oriented Dynamic Learning Environment und wird auch als LMS (Learning Management System) bezeichnet. Das in Australien entwickelte System unterstützt sozial-konstruktivistisches Lernen und wird von vielen Schulen und Universitäten als Lernplattform verwendet. Moodle bietet den Lernenden einen einfachen Zugang zu Lehr- und Lernmaterialien, aber auch die Möglichkeit, Aufgaben zur Lernkontrolle einzubinden und sich in Foren auszutauschen. Einige deutsche Bundesländer bieten Moodle unter eigenen Namen als Lernplattform an, z. B. mebis in Bayern oder Logineo in Nordrhein-Westfalen.
3 ausführlichere Informationen in: Thielemann, Kristin: Digital jetzt! Wie Sie Ihren Unterricht medial bereichern (= üben & musizieren spezial), Mainz 2022.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2023.