Tröger, Beate

Das Wichtigste, was wir haben, sind unsere kulturellen Wurzeln

Gespräch mit Elke Heidenreich über ihre Buchedition, ihre musikalische Sozialisation und ihre Erfahrungen bei der Vermittlung von Musik

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2011 , Seite 48

Elke Heidenreich wuchs in Essen als Tochter eines Kfz-Mechanikers und Tankstelleninhabers auf. Sie studierte Germanistik, Publizistik, Theatergeschichte und Religionswissenschaft. Ab 1970 arbeitete sie als freie  Autorin für Presse, Funk und Fernsehen. Nach mehreren Jahren als Moderatorin und Kolumnistin wandte sie sich ab den 1990er Jahren zunehmend der Literatur zu und moderierte von 2003 bis 2008 die ZDF-Sendung „Lesen!“.  Im Herbst 2009 startete sie die auf Musikthemen  ausgerichtete „Edition Elke Heidenreich“ im Verlag C.  Bertelsmann. Neben der Literatur ist die Oper das zweite große Gebiet, für das sich Elke Heidenreich besonders einsetzt. Von 1996 bis 2008 schrieb und bearbeitete sie die Libretti für Opernstücke, die an der Kölner Kinderoper zur  Aufführung gebracht werden. Seit der Gründung der Kölner  Kinderoper zählt Elke Heidenreich, die sich inzwischen aus  der Programmarbeit zurückgezogen hat, zu ihren größten Förderern.

Frau Heidenreich, Ihre „Edition Elke Heidenreich“ geht in diesem Jahr in die fünfte Programmrunde. Auf welchen Titel freuen Sie sich am meisten?

Ach, ich freu mich auf alle. Schön finde ich die Biografie über Marta Argerich, denn bisher gab es keine. Wir legen jetzt eine von Argerich autorisierte Biografie vor, die anlässlich des 70. Geburtstags der Pianistin Anfang Juni erscheint. Aber auch der italienische Roman von Teresa de Sio Lass den Teufel tanzen ist ein richtiger Schmöker. Und dann gibt es einen Roman über die Bandgeschichte von Pink Floyd, das ist auch ein tolles Buch. Besonders freue ich mich aber auf Das Bastard-Buch von Hans Neuenfels mit seinen Erinnerungen an Theater, Musik und Oper.

Was hat Sie im Zuge Ihrer editorischen Arbeit am meisten überrascht?

Nach einem Jahr mit über vierzehn Titeln bin ich doch überrascht, dass sich einige Titel überhaupt nicht verkaufen, weil der Autor unbekannt ist. Oder weil es offenbar doch eine sehr spezielle Edition ist, die ausschließlich Bücher vorlegt, die sich mit Musik beschäftigen. Ich könnte mir denken, dass einige das fürchten, weil sie denken, es sei zu speziell oder zu musikwissenschaftlich. Ist es aber gar nicht. Wir haben zum Beispiel einen Roman von Lee Langley im Programm, Madame Butterflys Schatten, eine wunderbare Weiterdichtung von Puccinis Madame Butterfly – eine Oper, die jeder liebt, der Musik liebt. Das Buch erzählt die Geschichte des Kindes weiter, hochinteressant. Leider hat das Buch bisher wenig Beachtung gefunden, was mich erstaunt. Man muss heute offenbar wirklich um jeden einzelnen Titel kämpfen, weil so viele Bücher erscheinen. Dadurch fallen solche kleinen Kostbarkeiten schnell hinten runter. Anders war es mit dem ersten Titel von Hans Neuenfels. Da wollte ich das Buch unbedingt machen und alle sagten: „Ach, das ist aber versponnen.“ Und dann wurde das Buch ein großer Erfolg. Man kann vielleicht sagen, dass die größte Überraschung die ist, dass man nie sicher sein kann, welche Bücher wirklich Anklang finden.

Frau Heidenreich, lassen Sie uns jetzt darüber reden, wie Ihre musikalischen Erinnerungen beziehungsweise Ihre frühen musikalischen Erfahrungen aussehen.

Meine Mutter war eine einfache und relativ ungebildete Frau, die nicht viel hat lernen können, weil sie aus armen Verhältnissen kam. Sie hat aber früh gemerkt, wie viel ihr die Musik bedeutet, immer viel Radio gehört und sich ein musikalisches Kind gewünscht. Also hat sie sich wirklich das Radio mit klassischer Musik auf den Bauch gelegt, als sie schwanger war. Und ich bin in der Tat musikalisch geworden. Ich denke aber, dass sie es auch selbst war und mir das vererbt hat. Sie hat später mit mir zusammen Radio gehört und mir Dinge erklärt, zum Beispiel bei der Ouvertüre Dichter und Bauer von Franz von Suppé so Sachen gesagt wie: „Hör mal, jetzt spricht der Dichter und das ist der Bauer.“ Oder bei anderer Gelegenheit: „Hör mal, jetzt weint Rigoletto.“ Sie hat mir vieles auf ganz plastische Weise erklärt. Ich bin also spielerisch mit Musik aufgewachsen. Für Konzerte und Oper war wenig Geld da, aber ich hatte eine Freundin, deren Eltern mich mit in die Oper nahmen, als ich dreizehn war. Wir hörten, ganz klassisch, Die Zauberflöte. Meistens sind ja Die Zauberflöte oder Der Freischütz die ersten Opern. Und ich war ganz begeistert von der Atmosphäre dort. Von der Livemusik in einem abgedunkelten Raum, vom Theater auf der Bühne, von den Bildern. Und war sofort infiziert von der Oper und bin es bis heute geblieben. Auch bei Inszenierungen oder Opern, die mir nicht so gut gefallen, fasziniert mich immer dieser Moment, in dem ich in einem Opernhaus etwas erlebe.

Unterrichtet wurden Sie zunächst auf dem Akkordeon.

Ja, ich bekam ein Akkordeon geschenkt, leider kein chromatisches, sondern ein diatonisches. Meine Mutter kannte den Unterschied nicht. Später beim Klavierspiel hat mir der Akkordeonunterricht also leider nicht weitergeholfen. Auf dem Klavier zu klimpern angefangen hab ich mit 15, als ich zu Pflegeeltern kam. Und später war ich auch im Bach-Chor, hatte eine gute Stimme, konnte vom Blatt singen und habe in dieser Zeit auch bei den großen Oratorien mitgesungen: Bach, Mendelssohn, Händel. Mit vierzig habe ich nochmal Klavierunterricht genommen. Und natürlich bin ich immer sehr viel ins Konzert und die Oper gegangen. Das alles ergibt so etwas wie meine musikalische Biografie.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Instrumentalunterricht?

Also, mein Akkordeonlehrer war ein Altnazi. Ein dicker alter Mann, der sich mit Musikunterricht was dazuverdient hat. Der ließ mich das Horst-Wessel-Lied spielen, weil er nicht viel anderes kannte. Meine Mutter ist dann zu ihm gegangen, hat mit ihm geredet, weil sie wollte, dass ich besseren Unterricht kriege. So wurden andere Noten angeschafft und der Lehrer hat mit mir leichte Lieder und Ländler und sowas gespielt, so dummes Zeug wie Kosakenritt und Junges Blut – ich habe die Noten bis heute aufbewahrt. Ich spielte auch anderes, etwa die Barkarole aus Hoffmanns Erzählungen. Und an Weihnachten natürlich Weihnachtslieder für Onkel und Opa: Stille Nacht und Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen.

Und hat Ihnen das Spaß gemacht?

Ja, Riesenspaß. Ich habe vor dem Unterricht mit meinen dünnen Ärmchen den riesigen Kasten aus dem Haus getragen. Meine Eltern konnten mich nicht hinbringen, denn sie waren berufstätig. Ich brauchte aber ein bisschen Hilfe und habe dann oft auf der Straße irgendjemanden gefragt: „Kannst du mir helfen?“, und die Leute schleppten mir das Akkordeon zum Unterricht, der nicht weit vom Haus entfernt stattfand. Ja, es hat mir großen Spaß gemacht, ich habe mich immer gerne mit Musik beschäftigt. Ich war auch in einem Akkordeonorchester. Wir sind in Essen im Saal bau aufgetreten und ich war die Allerjüngste. Da hieß ich noch Elke Rieger. Nachher stand dann in der Zeitung: „Sehr überzeugend war die kleine Helga Rieger.“ So kam ich in die Zeitung, habe aber geheult, weil der Name falsch geschrieben war. Ich hatte auch so einen kleinen Kofferplattenspieler, dazu sehr schöne Platten, etwa mit der Feuerwerksmusik und der Wassermusik von Händel und mit Beethoven-Klavierkonzerten. Trotz meiner besonderen Opernbegeisterung habe ich auch immer sehr gerne konzertante Musik gehört. In der Schule hatten wir Musikunterricht und nahmen Der Freischütz durch. Da hab ich dann zuhause die Agathe gesungen [singt]: „Wie nahte mir der Schlummer, bevor ich ihn geseh’n, ja, Liebe pflegt mit Kummer stets Hand in Hand zu gehn!“ Bis heute gehe ich sehr, sehr gerne ins Konzert, interessiere mich insbesondere für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Ich will wissen, wie es mit der Musik weitergeht. Die Nazis haben ja dieses große Loch gerissen. Und nachdem dieses große Loch gerissen worden war, gab es eine ziemliche Verwirrung, die meiner Meinung nach auch Schönberg und Adorno mitgestiftet haben. Plötzlich war alles so musikwissenschaftlich, so streng abgezirkelt. Die Sinnlichkeit war eine Zeit lang aus der Musik verschwunden. In der Literatur war es genauso, nur hat sich die schneller wieder davon erholt. Die Musik leidet heute noch daran. Es gibt noch immer Werke, die es schaffen, Konzertsäle leerzuspielen. Aber Komponisten wie etwa Wolfgang Rihm oder Detlef Glanert sind zum Glück darauf gekommen, dass man das Publikum nicht nur intellektuell, sondern auch emotional erreichen muss. Ich lebe mit einem Komponisten zusammen, Marc-Aurel Floros, der sehr jung ist, Jahrgang 1971: Der schreibt eine ganz wunderbar sinnliche, kraftvoll-schöne Musik. Das ist die Richtung, in die es meiner Meinung nach mit der Musik gehen muss. Floros und ich arbeiten viel zusammen, kürzlich gab es eine Uraufführung in Halle mit seiner Musik und einem kleinen Text von mir. Das sind Dinge, die mich in Sachen Musik im Moment besonders interessieren.

Von 1996 bis 2008 haben Sie zusammen mit Christian Schuller in Köln Oper für Kinder gemacht. Wie kam es dazu und wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Günter Krämer, der damals Intendant der Kölner Oper war, vertrat die Auffassung, dass man auch an das Publikum der Zukunft denken sollte. Die Opernbesucher wurden älter und älter und er wollte, dass jüngere nachkommen. So wurde ein Zelt gebaut, eine Art wunderbares Zirkuszelt, mit festen Wänden und einer Treppe und 120 Sitzplätzen: das Zelt, in dem später meine Sendung „Lesen!“ aufgezeichnet wurde. Das Zelt stand in der Oper im ersten Stock. Krämer suchte sich einen Leiter, Christian Schuller, damals Oberspielleiter, und beauftragte ihn mit der Leitung der Kinderoper. Schuller kümmerte sich um alle Inszenierungen und mich hatte man gebeten, die Texte zu bearbeiten. Die Oper spielte damals um 15 Uhr, es sangen die großen Solisten aus den Abendaufführungen und es spielten 13 bis 16 Musiker – mehr kriegten wir nicht hinein – aus dem Gürzenich-Orchester, manchmal auch Musiker von der Hochschule. Durch die Arbeit bin ich sehr nah an die Musik des 20. Jahrhunderts herangekommen, weil wir ausschließlich Opern aus dieser Zeit auf dem Programm hatten: Es waren Werke von Ernst Toch, Igor Strawinsky, Maurice Ravel, Ernst Krenek, Karl Goldmark und vielen anderen. Die Berührungsangst, die Erwachsene oft in Bezug auf zeitgenössische Musik zeigen, war überhaupt nicht vorhanden. Die Kinder rissen in der Oper immer Augen und Ohren auf und staunten. Großartig! Es war immer voll, ausverkauft. Angefangen haben wir mit zweihundert Schülerabos im großen Haus, und als Christian Schuller und ich nach zwölf Jahren aufgehört haben, weil wir etwas Neues machen wollten, waren wir bei zweitausend Abos angelangt.

Wie sind Sie bei Ihrer Arbeit an den Texten vorgegangen?

Ich habe versucht, die Geschichten so klar und einfach wie möglich zu erzählen. Zum Beispiel mit Hilfe eines eingebauten Erzählers, der dann etwas vor dem Vorhang erklärt hat, während hinter dem Vorhang umgebaut wurde.

Welches ist Ihre schönste Erinnerung an diese Zeit?

Als wir ganz zu Beginn, 1996, Strawinskys Le Rossignol aufführten, habe ich mir die Musik zuhause angehört und dachte: „Das ist aber spröde, das soll den Kindern gefallen? Wie seltsam.“ Wir durften nur wenig verändern, es wurde nur wenig gekürzt. Ich habe lediglich eine Figur eingebaut, die kurz während des Umbaus vor den Vorhang tritt und ein bisschen erklärt; ein bisschen habe ich auch an der Übersetzung gefeilt. Als die Oper dann aufgeführt wurde, saß ich zwischen den Kindern im Zuschauerraum und sah, was für ein Kleinod Schuller daraus gemacht hatte. Da habe ich wirklich geheult, weil es so schön war. Da liegt der kranke Kaiser von China im Bett, und die künstliche Nachtigall, die er geschenkt bekommen und der echten vorgezogen hat, ist inzwischen kaputt gegangen. Und dann kommt die echte Nachtigall und setzt sich aufs Fensterbrett und singt ihn wieder gesund. Die Geschichte zeigt, was Musik kann, dass sie uns vom Tod erlöst, wovon ja auch die Oper L’Orfeo von Monteverdi erzählt, die ja als erste Oper überhaupt gilt. Als ich also da saß und sah und hörte, was geschah, während Strawinskys kraftvolle Musik sich mir ganz anders erschloss, war ich dankbar und glücklich und wusste, dass ich mich genau dahin bewege, wo ich hin will. Vielleicht war diese erste Aufführung für mich tatsächlich die schönste.

Soll die musikalische Sozialisierung von Kindern und Jugendlichen weiter ausgebaut werden?

Unbedingt! Man muss die Kinder dazu bringen zu lesen und Musik zu hören, denn das Wichtigste, was wir haben, sind unsere kulturellen Wurzeln. Das hat erst mal nicht viel mit Wissen und Bildung zu tun, sondern mit Heimat, mit der Frage, wo wir unsere Ursprünge haben. Man kann nichts Besseres für Kinder tun, als ihnen vorzulesen und mit ihnen Musik zu hören, damit sie in diesen Dingen sicher und geerdet werden. So haben sie einen Schatz fürs ganze Leben. Jedes Kind liebt Peter und der Wolf und dass es da noch mehr gibt, das haben wir in der Kinderoper entdeckt. Wir haben damals zum Beispiel auch Young People’s Concerts von Leonard Bernstein aufgenommen, mit dem WDR Rundfunkorchester Köln und Christian Schuller am Klavier; ich habe die Texte ge sprochen. Die CD war ein richtiger Renner an Schulen. Man kann im Bereich der frühen Förderung gar nicht genug tun, vor allem, wenn man sieht, wie glücklich die Kinder sind, wenn sie sich mit Musik befassen. Man sieht, wie sehr sie das bereichert. Ich überlege auch, ob ich nicht in der „Edition Elke Heidenreich“ etwas in diese Richtung machen könnte.

Machen wir einen Sprung. Ich möchte eine Passage aus einem Ihrer Texte zur Oper zitieren: „Bitte: Alle Opernhäuser sollten endlich an allen Eingängen große Körbe mit knisterfreien Hustenbonbons aufstellen, wie es die Kölner Philharmonie seit Jahren erfolgreich macht.“ – Welchen weniger pragmatischen, bislang unerfüllten musikalischen Traum haben Sie noch?

Ja, dieses Rumgehuste ist wirklich schrecklich. Wenn jemand so erkältet ist, gehört er nicht in die Oper. Aber jetzt zu der Frage: Ich habe tatsächlich einen großen Traum. Marc-Aurel Floros und ich sind vor einiger Zeit von der Kölner Oper damit beauftragt worden, eine Oper für Köln zu schreiben. Vorher hatten wir im Rahmen der großen Dalí-Ausstellung im Museum Ludwig eine kleine surrealistische Kammeroper geschrieben, Floros die Musik, ich das Libretto, mit dem Titel Gala Gala und der Dauer von einer Stunde. Angesetzt waren acht Vorstellungen, schließlich kamen wir auf über zwanzig Vorstellungen. Es war ein sensationeller Erfolg, bei Kritik und Publikum. Es folgte also der Auftrag für eine große Oper von zwei Stunden Dauer. Wir hatten angefangen, aber dann wurde Marc-Aurel Floros mehrere Monate lang sehr schwer krank, und – solche Fälle sind ja häufiger in der Musikgeschichte – die Oper lag erstmal auf Eis. Die Aufführung wurde aufgeschoben, die Intendanz hat gewechselt, die Kölner Oper wurde saniert. Und wir wissen nicht, ob das Stück noch jemals hier aufgeführt werden kann. Aber Marc-Aurel Floros sitzt jetzt wieder an der Arbeit, mit neuer Kraft. Und wir würden uns unglaublich freuen, wenn das Stück auf die Bühne käme, ob nun in Köln, wo ich das Opernhaus ganz besonders liebe, oder an einem anderen Ort.