Röbke, Peter
De-Humanisierung?
Musizieren und Digitalität
Verfehlen digitale, KI-gestützte Übe- und Begleittools das Eigentliche des Musizierens, wenn sie nur auf die akustische Außenseite der Musik abheben? Oder kann auch die musikalische Spannungsgestaltung digitalisiert werden?
Im Film „Im Garten des Sergiu Celibidache“1 werden wir Zeuge einer Chorprobe mit Mozarts Requiem. Der Dirigent hält inne, um sich an den Chor zu wenden: „Ihr habt einen schönen ersten und einen schönen zweiten Klang hervorgebracht. Aber wie um alles in der Welt seid ihr vom ersten zum zweiten Klang gekommen?“ Das war Celibidaches grundsätzliches Anliegen: in einem Musizieren im Hier und Jetzt die Energie zwischen den Klängen und über diese hinweg zu spüren und zu gestalten, im ersten Ton eines Werks sich schon dessen letzten gewahr zu sein, sich dem Spannungsverlauf der einzelnen Phrase wie der des ganzen Formteils oder Satzes hinzugeben.
Dass es beim Musizieren um das Dazwischen geht, zeigt schon die musikalische Terminologie: Wenn etwa die Vierte Bruckners zu Beginn die Spannung und Dehnung eines Intervalls entfaltet, dann sagt uns „Inter-Vall“ im Wortsinne,2 dass der Zwischenraum das Wesentliche ist, also das, was zwischen dessen hörbaren Begrenzungen liegt und was der Besetzung durch die psychischen Energien der Musizierenden harrt, damit aus Tönen Musik werden kann.3
Im Rhythmisch-Metrischen kann man die gleiche Erfahrung machen: Wer da nur Beats realisieren würde, hätte womöglich mathematisch korrekt Tempo und Rhythmus markiert (also „metronomisch gespielt“), nicht aber den metrischen Puls mit Gespür für die hörbaren Ereignisse und die spürbaren Räume dazwischen gestaltet. Oder wie Reinhard Flatischler formuliert: „Durch die regelmäßige Wiederholung eines Ereignisses entstehen zwei Elemente: Puls und Zwischenraum. In jeder Pulsation sind diese beiden Elemente unzertrennlich miteinander verbunden. Der Zwischenraum vermittelt Fluss, Ausdehnung und Strömen. Der Puls hingegen Begrenzung, Wiederkehr und Entladung.“4
Stellt Digitalisierung Körperlichkeit in Frage?
Paradoxerweise ist wohl gerade das Unhörbare das Wesentliche an der Musik (gegenüber den hörbaren Tönen und Klängen), und so drückt die italienische Wendung für Musikhören, sentire (= „hören“ und „spüren“) la musica, die angemessene Weise der Wahrnehmung von Musik aus. In seiner Musikpsychologie von 1931 brachte Ernst Kurth das Verhältnis von akustischer Realität und psychischer Besetzung dieser Realität (die Transformation des nur Hörbaren ins empfundene Musikalische) auf den Punkt: „Wenn eine Saite schwingt, Beitöne erzeugt und fortpflanzt, so ist das der Klang; daß aber Spannung und Gravitationen ihn durchsetzen, das sind wir, darin spiegelt sich nicht das klingende Phänomen, sondern unsere Psyche […]. Indem wir die psychischen Grundinhalte in ihn hineintragen, ‚komponieren‘ wir erst den Tonreiz zum musikalischen Ton […]. Nicht der Ton ist Ursprung der Musik.“5
Wir sind der Anfang der Musik, wir als leibhaftige Menschen, deren Körper immer schon Musik ist, indem er sich bewegt, atmet, ein viszerales Geschehen hat.6 Wir besetzen psychisch die „Tonreize“, wir verlebendigen und beseelen die Klänge, oder um es neutraler zu sagen: Wir sind in der Verantwortung für die musikalische Spannungsgestaltung.
Wenn man auf den bisherigen Gang der Darlegungen blickt, könnte man erwarten (oder befürchten…), ich wäre dabei, mich umstandslos in eine „kulturell verankerte, handwerkliche Diskurslogik [einzufügen], in der die selbständige Erarbeitung und die analoge, handgemachte Qualität der Musik das Arbeitsethos und das didaktische Verständnis der Lehrkräfte bestimmen“.7 Kann dann Digitalisierung überhaupt anders als De-Humanisierung aufgefasst werden, als fundamentales In-Frage-Stellen von Sinnlichkeit und Körperlichkeit, als das Gegenteil von Verlebendigung und Beseelung?
Die Argumentation wäre somit einem Sozio-Epistem,8 das heißt einer „tieferen Wissensordnung“ zugehörig, die auf ein „De-Humanisierungspostulat“ hinausläuft, wodurch sich eine die Digitalität delegitimierende Begründungsfigur und ein Bild ergeben könnte, „dass digitale Technologien auf Basis der Herausstellung des Menschlichen bzw. einer Zurückweisung von dehumanisierenden Effekten abgelehnt werden“,9 denn – so einer der Teilnehmer in einer Studie von Matthias Krebs –: „Ist das Spielen eines realen Instruments nicht einer der wenigen Bereiche, in denen der Mensch keinen Supercomputer benötigt?“
Wozu mich „MyGroove“ einlädt…
Aber gemach… Der klassische Musiker in mir tritt nun zunächst der App MyGroove10 gegenüber, jener von Martin Grubinger promoteten Lernsoftware, die es Kindern und Jugendlichen erlauben soll, in der häuslichen Umgebung instrumentale und vokale Kompetenzen zu erwerben. Meine Grundhaltung dazu ist positiv, denn dass angesichts der unendlichen Einsamkeit des daheim vor sich hin übenden Kindes digitale Begleitung und Unterstützung sinnvoll ist, daran habe ich keinen Zweifel.11
Ich will nun, Level für Level, die Gesangsstimme der von Hans Zimmer massiv bearbeiteten Fassung der österreichischen Nationalhymne („Die Hymne Deines Lebens“) erlernen und vertraue mich einem sechsköpfigen Voice All Star Team um Monika Ballwein und Lukas Perman an, einem unbarmherzig lockeren und gnadenlos entspannten Team, das mir in Schritt 1 jedes Levels („Explore the Song“) nicht nur die richtigen Töne nahebringt, sondern auch durchaus zielführende Hinweise für die Ausführung gibt: Ich soll in meinen Gesang eine Geschichte hineinlegen oder an etwas denken, das mir Gänsehaut bereitet, und bei den hohen Tönen in den Bauch atmen oder in die Töne richtig hineinbeißen. Dann „wartet die Band auf mich“: Im zweiten Schritt singe ich mit einer heftig groovenden Band mit, in deren Zentrum der entfesselt aufspielende Martin Grubinger steht.
1 The Garden of Celibidache (1996), https://youtu.be/I6eLHzK1UaM (Stand: 7.8.2024).
2 Lateinisch „intervallum“, eigentlich = Raum zwischen zwei Pfählen, Pfosten (eines Walls).
3 Wie dies schon Kindern zugänglich ist, vgl. meine Ausführungen über ein Kinderstreichquartett: „Markierung des Ziels. Geglücktes Musizieren im Zusammenspiel von Klang, Bewegung und Emotion“, in: Figdor, Helmuth/Röbke, Peter: Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog. Mainz 2008, S. 150 ff.
4 Flatischler, Reinhard: Rhythm for Evolution. Das TaKeTiNa Rhythmusbuch, Mainz 2006, S. 77.
5 Kurth, Ernst: Musikpsychologie, Hildesheim 1990 (= 2. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1931), S. 11, 22 und 56.
6 vgl. dazu vor allem Rüdiger, Wolfgang: Der musikalische Körper. Ein Übungs- und Vergnügungsbuch für Spieler, Hörer und Lehrer, Mainz 2007.
7 Krebs, Matthias: „De-/Legitimation von digitalen Technologien im Gesangs- und Instrumentalunterricht an Musikschulen. Eine Untersuchung zum ablehnenden und befürwortenden Sprechen von Musikschullehrkräften über den unterrichtlichen Einsatz digitaler Technologien“, in: Krupp, Valerie/Niessen, Anne/Weidner, Verena (Hg.): Wege und Perspektiven in der musikpädagogischen Forschung. 42. Tagungsband des AMPF, Münster 2021, S. 217-235, hier: S. 225 Online einsehbar unter: www.matthiaskrebs.de/wordpress/wp-content/uploads/2023/08/Krebs-2021-De-Legitimation-von-digitalen-Technologien-in-Musikschule.pdf (Stand: 7.8.2024).
8 Die Tiefenstruktur eines Sozio-Epistems „ist als positiv Unbewusstes innerhalb eines Diskurses zu verstehen […], das so selbstverständlich ist, dass es sich der Vergegenwärtigung der Akteur*innen entzieht“ (Krebs, S. 226).
9 Krebs, S. 226.
10 https://mygroove.app (Stand: 7.8.2024).
11 vgl. dazu Röbke, Peter: „Musikalisches Handeln im Zwischenraum: Instrumentalpädagogik und das öffentlich Private“, in: Hiekel, Jörn Peter (Hg.): ÖFFENTLICHprivat. (Zwischen)räume in der Gegenwartsmusik, Mainz 2020, S. 111-122.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2024.