Rüdiger, Wolfgang

Dein Name sei mit Klang gesegnet

„The Greeting“ von Pauline Oliveros

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 1/2022 , Seite 44

Einzigartigkeit und Endlichkeit des Menschen sind Thema von Literatur und Musik in jenen kostbaren Momenten, die an das Wesentliche der Existenz rühren. Iwan Bunins Erzählung Fernes (1922) birgt einen solchen Moment. Es geht um Abschied und Endgültigkeit: „Wir alle eigentlich, die wir eine bestimmte Zeit gemeinsam auf Erden leben, ein und denselben Himmel sehen […] und ausnahmslos zu einer, derselben, Strafe verdammt sind, der, vom Antlitz der Erde zu verschwinden, sollten füreinander größte Zärtlichkeit hegen, das Gefühl einer zu Tränen rührenden Verwandtheit, und sollten schreien vor Angst und Schmerz, wenn das Schicksal uns scheidet, denn es hat ganz in der Hand, jeden Abschied, und sei es einen auf zehn Minuten, in einen auf ewig zu verwandeln.“1 Ähnliches lesen wir im neuesten Roman von Cécile Wajsbrot: „Und eines Tages stirbt jemand, und man bereut. Wenn man sich häufiger gesehen hätte, wenn man gewusst hätte, […] wenn diese oder jene Antwort anders geklungen hätte? Was man behält, was man vergisst, was da ist, ohne dass man es weiß, und eines Tages wieder hochkommt – was endgültig verloren ist.“2
Musikmachen ist wie Dichten ein Mittel, der Einzigartigkeit und Sterblichkeit von Menschen mit Zärtlichkeit und Zauber zu begegnen – und dies in jedem Augenblick: beispielsweise wenn wir anderen Klänge schenken oder ihren Namen in Klang verwandeln.
Stellen Sie sich eine Veranstaltung vor – ein Schülerkonzert, ein Klassenvorspiel oder ein Symposium: Sie sind mit befreundeten MusikerInnen oder SchülerInnen etwas früher da und erwarten die Gäste. Jede Person oder Gruppe, die eintrifft, begrüßen Sie mit Klängen: mit einem aufblühenden Ton, einer Tongestalt, einem Motiv am Instrument oder mit der Stimme, in freischwebender Aufmerksamkeit und absichtsloser Empathie, wie es Ihnen in den Sinn kommt; und dies gern mehrmals, im Stehen oder Gehen. Setzen Sie dies fort, bis alle anwesend sind, und ermuntern Sie eventuell die Ankommenden zu einer eigenen „kreativen Klang-Antwort“ (nach Bernhard Waldenfels), bis die Begrüßung von selbst ausklingt.
Diese kleine Zeremonie geht zurück auf ein Konzept der Komponistin Pauline Oliveros (1932-2016), in dem es ein und derselbe Ton ist, der anderen voll Aufmerksamkeit und Achtsamkeit geschenkt wird: The Greeting (1971-72), Nr. IX aus Sonic Medita­tions.3

1 Iwan Bunin: Fernes (1922), in: ders.: Liebe und andere Unglücksfälle. Novellen, Frankfurt am Main 2000, S. 80-89, hier: S. 88.
2 Cécile Wajsbrot: Nevermore, Göttingen 2021, S. 83.
3 Pauline Oliveros: Sonic Meditations, online unter https://monoskop.org/images/0/09/Oliveros_Pauline_Sonic_Meditations_1974.pdf (Stand: 15.11.2021).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2022.