Göllner, Michael / Benedikt Plößnig
Den Highscore im Blick?
Gedanken zu Musizierlern-Apps und Gamification
Wir leben in einer spielerischen Welt – zumindest, was ihre virtuelle Dimension angeht. Beim Einkaufen, im Fitnessstudio oder beim Abhaken von To-do-Listen: Software und Apps setzen in allen Lebensbereichen auf Spielmechanismen. Das gilt auch für das Musizierenlernen: Apps wie „MyGroove“, „tonestro“ oder „Tunystones“1 locken mit spielerischem Design, hohem Spaßfaktor und versprechen effizientes Lernen. Anlass genug, einmal genauer hinzuschauen: Welches musizierpädagogische Potenzial bieten gamifizierte Apps und (wie) lassen sie sich im Unterricht nutzen?
Bis vor wenigen Jahren beschränkte sich das Schnittfeld zwischen Videospielen und Musizieren noch auf sogenannte „Guitar Games“ – Computerspiele und Software, die musikalischen Laien im digitalen Raum Zugänge zum E-Gitarrenspiel ermöglichen.2 Mittlerweile decken Musizierlern-Apps viele weitere Instrumente und Gesang ab, zunehmend auch im Bereich klassischer Musik. Dabei folgen sie unterschiedlichen Konzepten. Die Tradition der Guitar Games bleibt aber insofern erkennbar, als viele Apps Musizierenlernen aufs Engste mit der Logik von Computerspielen verknüpfen. Auf der Website von MyGroove, einer von Martin Grubinger intensiv promoteten App, heißt es etwa: „Mit MyGroove kannst du zusammen mit Artists auf deinem Instrument in einer Band spielen und dabei deine Skills verbessern. In verschiedenen Songs wirst du Level für Level trainieren, Feedback erhalten und Punkte sammeln, um dich mit anderen zu messen.“3
Mittlerweile werden weder komplizierte Controller noch sperrige Endgeräte benötigt, sondern lediglich ein Smartphone, das sich ohnehin als Lebensbegleiter vieler Menschen etabliert hat. Das interessante Verhältnis von Gaming, Musizieren und Lernen, das dadurch entsteht, wurde im englischsprachigen Raum bereits Gegenstand intensiver Diskussion – im deutschsprachigen Raum steht die Auseinandersetzung aber noch am Anfang.4 Worum also geht es genau?
Gamification, Musik und Spiel
Der Begriff „Gamification“ steht für den „Prozess der spielerischen Gestaltung von Aktivitäten in einem spiel-fremden Kontext durch die Verwendung von Spiel-Design-Elementen“.5 In Bezug auf das Musizieren wirkt diese Definition erstaunlich: Inwiefern stellt Musizieren denn einen „spiel-fremden“ Kontext dar? Verweist nicht schon der Ausdruck des Spielens von Musikinstrumenten auf dessen spielerische Qualität?
Tatsächlich gibt es wenig Phänomene, die den instrumentalpädagogischen Diskurs ähnlich intensiv geprägt haben wie die enge Verbundenheit von Musik und Spiel. Spielen bedeutet – ähnlich wie der Vollzug künstlerisch-ästhetischer Erfahrungen – das Eintauchen in eine Welt jenseits des Alltags. Darüber hinaus ist das Phänomen enorm komplex und begrifflich schwer zu fassen.7 Spiele können einfach oder sehr kompliziert sein, sie können kleine oder riesige soziale Kontexte umfassen, sie können auf Regeln basieren oder immer wieder neu erfunden werden. Für letztere Unterscheidung existieren im Englischen sogar zwei unterschiedliche Begriffe: Während „play“ freies, assoziatives Spiel meint, steht „game“ für regelgeleitetes, wettbewerbsorientiertes oder auf bestimmte Ergebnisse gerichtetes Handeln.8 Diese semantische Trennung ist wichtig, denn die oben erwähnte „spielerische Gestaltung“ (auch von Musizierlern-Apps) bezieht sich auf Letzteres und erfolgt wie in vielen Computerspielen durch Punkte, Abzeichen oder Bestenlisten (= Leaderboards).9
Dazu ein Beispiel aus der Musikschule: Trotz zahlreicher Hilfestellungen und Appelle zeigte eine Saxofon-Schülerin – nennen wir sie Alina – kaum Bemühungen, ihre Tonleiter so vorzubereiten, dass zufriedenstellend damit gearbeitet werden konnte. Ihre Lehrerin versuchte es daher mit einer App, die Echtzeitfeedback zu Intonation und Rhythmus verschiedener Stücke und Tonleiterübungen gab und die Richtigkeit des Gespielten mit einer Gesamtpunktzahl rückmeldete. Das zeigte unmittelbar Wirkung: Bereits beim gemeinsamen Erproben der App war Alina begeistert und die Aufgabe, einen Highscore von mindestens 80 % zu erzielen, meisterte sie bereits am nächsten Tag, wie sie ihrer Lehrerin per Screenshot freudig mitteilte.
Motivierende Wirkung von Musizierlern-Apps
An dieser Stelle der Geschichte drücken wir auf die imaginäre Stopp-Taste, denn ein Leitmotiv der Auseinandersetzung mit gamifizierten Lernprogrammen wird unmittelbar erkennbar: die Hoffnung, dass solche Apps das selbstständige Lernen (hier: Üben) unterstützen und motivierend wirken, indem sie Erfolge sichtbar machen und belohnen. Idealerweise erzeugt diese unmittelbare Rückkopplung von performativer Leistung und Lernen ein starkes Gefühl von Kompetenz und entfaltet eine Sogwirkung, die Flow-Erlebnisse begünstigt. Features wie Leaderboards können dies unterstützen, zumal sie neben kompetitiven Elementen eine soziale Dimension beinhalten. Wenn es gut läuft, kann so Motivation entstehen und am Laufen gehalten werden.10
Insofern wird in der Geschichte aus dem Saxofonunterricht auch eine instrumentalpädagogische Vision oder Sehnsucht erkennbar: die App als virtuelle Übe-Partnerin, die das häusliche Musizieren begleitet, individuelles Feedback gibt und auch solchen Kindern zur Verfügung steht, die durch ihre Eltern wenig Unterstützung erhalten oder nicht die Möglichkeit haben, geregelten Instrumentalunterricht zu besuchen.
Musizieren als Leistung?
Damit kommen wir zurück zu Alina und setzen die Geschichte noch ein wenig fort: Die anfängliche Freude der Lehrerin über den Erfolg ihrer Schülerin wich zunehmender Ernüchterung. In der folgenden Stunde stellte sich heraus, dass Alina zwar mittlerweile in der Lage war, eine Punktzahl von 90 % und mehr zu erreichen. Einen vermeintlich schwierigen Ton der Skala umging sie dabei aber geschickt, weshalb der schwierige Griffwechsel im Unterricht auf andere Art und Weise bearbeitet werden musste.
Das Beispiel zeigt, dass Musizierlern-Apps musikalische Performance sehr genau erfassen müssten, um selbstständiges Üben zu unterstützen. Momentan gelingt dies nicht immer verlässlich. Doch selbst, wenn sich das eines Tages ändert, ist die App-Entwicklung mit grundlegenden didaktischen Fragen konfrontiert: Was heißt es eigentlich, ein Instrument zu spielen? Welche Fähigkeiten sind dafür erforderlich und inwiefern lassen sich diese in einen stufenweisen Aufbau überführen?
Überzeugende Antworten auf diese Fragen stehen bislang noch aus; ebenso wie eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem schillernden Prinzip Leistung, dem Gamification folgt. Denn Challenges und Bewertungen können natürlich motivieren – entscheidend ist aber, was und wie bewertet wird. Denn dabei wird immer auch definiert, was im jeweiligen Kontext überhaupt relevant und anerkennungswürdig ist. Wenn das Erreichen hoher Punktzahlen z. B. lediglich von Intonation und Timing abhängt – wie und aus welchem Grund sollten Lernende dann weitere musikalische Fähigkeiten entwickeln? Oder wenn Apps suggerieren, dass es beim Instrumentalspiel vor allem um permanente Verbesserung und sozialen Vergleich geht: Welches Bild von Musizieren entsteht dann eigentlich? Ist innerhalb der Gamification-Logik überhaupt denkbar, dass Menschen mitunter einfach „nur so“ musizieren (im Sinne des oben genannten „play“)?11
Für einen gelingenden Umgang mit Musizierlern-Apps wäre also wichtig, dass es Lernenden gelingt, eine selbstreflexive Haltung gegenüber dem eigenen Musizieren und den Bewertungen der App einzunehmen. Mitunter geschieht dies, wenn SpielerInnen der App auf Grund technischer Mängel misstrauen und beginnen, eigene Maßstäbe zu entwickeln.12 Musik- und medienpädagogisch weitaus sinnvoller wäre allerdings, die Lernumgebung so zu gestalten, dass die Wahrnehmung vielfältiger musikalischer Parameter ebenso eine Rolle spielt wie die Orientierung am Ziel eines selbstbestimmten und persönlich bedeutsamen Musizierens. Die Anbahnung von Reflexionskompetenz und letztlich die Emanzipation von der App könnte aber in Konflikt stehen mit dem Prinzip Gamification, vor allem jedoch mit wirtschaftlichen Interessen von App-EntwicklerInnen.
Eindrücke aus einem Pilotprojekt
Angesichts der Diskrepanz, die zwischen dem Ideal einer virtuellen Unterstützung des häuslichen Übens und dem gegenwärtigen Stand entsprechender Apps erkennbar wird, möchten wir abschließend Eindrücke aus der Evaluation eines Pilotprojekts aufrufen, bei dem es um die Frage ging, wie selbstständig SchülerInnen einer Mittelschule tatsächlich mit der App MyGroove Bandinstrumente lernen und wie sich ihre Motivation im Laufe eines Schuljahrs entwickelt.13
Das wichtigste Ergebnis vorweg: Die Vorstellung von einer App, die vollumfänglich und ohne weitere Bemühungen Musizier- und Lernpartnerin in einem ist, ist wenig realistisch. Das in die App integrierte Leaderboard sorgte zwar anfangs für große Begeisterung, das Sich-messen-mit-anderen verlor aber im Lauf des Projekts an Attraktivität. Prinzipiell machte den SchülerInnen das selbstständige Musizieren mit der App zwar Spaß – unzufrieden waren sie aber mit dem undifferenzierten und teils ungenauen Feedback der App.
Bezogen auf das häusliche Musizieren und Üben machten die Rückmeldungen von Eltern deutlich, dass hier nach wie vor Unterstützungsbedarf besteht. Einige Lehrende wiederum berichteten, mittels der App bislang unentdeckte musikalische Begabungen erkannt zu haben: Ihnen fielen etwa Jugendliche ohne musikalischen Hintergrund auf, die sich plötzlich für Schlagzeug, Gitarre und Co begeisterten und in weiterer Folge sogar an der Musikschule anmeldeten. Sehr deutlich artikulierten die Beteiligten den Eindruck, dass letztlich vor allem die Lehrenden und eingebundenen KünstlerInnen die treibenden Kräfte waren, die das Lernen der SchülerInnen am Laufen hielten und für die musikalische Qualität beim abschließenden Konzert am Ende des Schuljahres sorgten.
Ausblick
Was nehmen wir aus unserer Auseinandersetzung mit Gamification mit? Zunächst beinhaltet die Entwicklung derartiger Apps aus unserer Sicht große Chancen. Dass sie intrinsische Motivation erzeugen und langfristig aufrechterhalten, ist wohl nicht zu erwarten. Als Übe- und Unterrichtspartnerin haben Musizierlern-Apps aber Potenzial – vor allem dann, wenn sie musizierpädagogisch informiert gestaltet und im Präsenzunterricht thematisiert werden.
Musikschulen bietet dies die Chance, sich als Orte des sozialen und musikästhetischen Austauschs zu profilieren und Unterricht als einen Raum zu verstehen, der digitale Lernwelten beinhaltet. Dem jungen und an Bedeutung stetig wachsenden Feld musikpädagogischer (und fachdidaktischer!) Forschung zum App-Musizieren bietet sich hier ein spannendes Feld.14 Mit unserer rahmenden Geschichte haben wir bewusst eine Unterrichtssituation aufgegriffen. Denn wenn es in Zeiten, die bereits als post-digital bezeichnet werden, immer wichtiger wird, sich im Dschungel digitaler Musizierangebote zurechtzufinden: Warum sollten Lernende und Lehrende dies nicht gemeinsam tun? Als positiven Aspekt beinhaltet dies vielleicht auch die Chance, gemeinsam und auf Augenhöhe über wesentliche Aspekte von Musizierenlernen nachzudenken und SchülerInnen dabei zu begleiten, ihre Entwicklung durch die Wahl geeigneter Unterstützungsmöglichkeiten voranzutreiben.
1 Auf diese Apps beziehen wir uns besonders, da wir sie unter anderem in der Lehre erprobt und diskutiert haben.
2 Einen Überblick bietet die Dissertationsschrift von Jan Torge Claussen: Musik als Videospiel. Guitar Games in der digitalen Musikvermittlung, Hildesheim 2021.
3 https://mygroove.app (Stand: 4.9.2024).
4 Eine Ausnahme bilden Arbeiten der Berliner Forschungsstelle AppMusik, http://forschungsstelle.appmusik.de/spielerisch-notenlesen-lernen-mit-apps (Stand: 4.9.2024).
5 Sailer, Michael: Die Wirkung von Gamification auf Motivation und Leistung. Empirische Studien im Kontext manueller Arbeitsprozesse, Wiesbaden 2016, S. VII.
6 Die vielfältigen Bezugspunkte können hier nicht entfaltet werden – es lohnt sich aber, sie nachzulesen. Einen Überblick bietet: Rüdiger, Wolfgang „Spielen und Spiel als Leitidee instrumentalpädagogischen Handelns“, in: Busch, Barbara (Hg): Grundwissen Instrumentalpädagogik. Ein Wegweiser für Studium und Beruf, 2., überarb. Auflage, Wiesbaden 2021.
7 Einige weitere Facetten nennt Peter Röbke in seinem Beitrag in dieser Ausgabe, siehe Seite 10 f.
8 Deterding, Sebastian/Dixon, Dan/Khaled, Rilla/ Nacke, Lennart: „From game design elements to gamefulness: defining gamification“, in: Proceedings from Mindtrek 2011, Tampere 2011, S. 2, DOI: 10.1145/2181037.2181040 (Stand: 4.9.2024).
9 Zudem finden Avatare, Nicht-Spieler-Charaktere oder narrative Elemente Verwendung (vgl. Sailer, S. VII).
10 In außermusikalischen Kontexten wird versucht, die motivierende Wirkung gamifizierter Lernumgebung mithilfe Edward L. Decis und Richard M. Ryans Selbstbestimmungstheorie der Motivation dingfest zu machen, die an ebenjenen menschlichen Grundbedürfnissen (dem Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Einbindung) ausgerichtet ist (vgl. Sailer).
11 Um ein positives Beispiel zu nennen: TunyStones beinhaltet einen Kreativ-Modus, in dem mit Klangkombinationen frei experimentiert werden kann.
12 Claussen, S. 246-247.
13 Plößnig, Benedikt/Christof, Evelin/Gerlach, Lena/Göllner, Michael/Obex, Tanja/Pinczewski, Filip: „MyGroove – Musik für alle“. Evaluationsbericht, 2023, www.burgenland.at/fileadmin/user_upload/Downloads/ Gutachten__Studien__Umfragen/MyGroove_Evaluationsendbericht.pdf (Stand: 4.9.2024).
14 vgl. Plößnig, Benedikt: Blended Learning an Musikschulen [Arbeitstitel] (i. Vorb.).
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 5/2024.