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Abilgaard, Peer

Der Blick hinter den Vorhang

Musik machen, Musik lernen, Musik lehren – wie kann eine ­tiefenpsychologische Perspektive dabei nützlich sein?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2025 , Seite 06

Tiefenpsychologische Konzepte können eine interessante Bereicherung für alle künstlerisch und pädagogisch Tätigen sein. Welche Ziele könnten damit verfolgt werden? Psycho­therapeut Peer Abilgaard ermöglicht einen Blick auf die Prozesse von Musik lehren und lernen aus der Perspektive der Tiefenpsychologie.

1. Tiefenpsychologie unterstützt den Prozess der Interpretation

Mark M. ist im zweiten Semester an der Musikhochschule in T. Er studiert Trompete mit künstlerischem Schwerpunkt. Heute steht der zweite Satz des Trompetenkonzerts von Joseph Haydn im Mittelpunkt seines Hauptfachunterrichts. Technische Probleme ergeben sich beim Vortrag des Stücks für Mark nicht. Er ist ein exzellenter Trompeter. In der gemeinsamen Arbeit im Unterricht geht es in dieser Stunde einzig um die Interpretation. Seine Hauptfachdozentin unterstützt Mark in diesem Prozess, indem sie ihm Fragen stellt: „Mark, was denkst du, wie könnte der Mittelteil vielleicht noch etwas beseelter klingen? Welche Gefühle assoziierst du mit der Chromatik ab Takt 21 in diesem Stück? Wie könnte es gelingen, den emotionalen Gehalt dieser Phrase noch klarer herauszustellen? Aus welchen persönlichen Bildern könntest du diese Inhalte schöpfen?“
Beide verstehen diese Arbeit als einen Prozess des gemeinsamen Suchens: Der Notentext ist der Startpunkt einer Reise. Ziel ist eine für beide plausible Deutung der Affektebene hinter den Tönen, die günstigstenfalls Zuhörende emotional in Resonanz versetzt. Student und Dozentin bilden eine Arbeitsgemeinschaft. Beide bringen ihre Assoziationen ein, die beim Interpretieren des Notentextes entstehen. Diese speisen sich aus ihren Erlebnissen mit dem Stück, mit sich selbst und ihren Lehrenden, schlussendlich aus ihrer gesamten Biografie, mit allen Höhen und Tiefen. Implizit ist das die Ebene, die mutmaßlich mit dazu beiträgt, dass Musik eine so starke kommunikative Kraft entfaltet, besonders beim Live-Erlebnis.
Jede Form von musikalischem Lernen hat es mit Psychologie zu tun. Das für das Lernen zuständige Organ ist das Gehirn. Es verändert sich in dem Maße, wie wir es für Lernprozesse in Anspruch nehmen. Kommt Emotionalität beim Lernen ins Spiel, wird es im Gehirn besonders komplex. Verschiedene Hirnstrukturen kooperieren gleichzeitig parallel und hierarchisch; zudem sind viele Aspekte, die für unser Handeln bestimmend sind, nicht durchgängig dem Bewusstsein zugänglich. Der Hirnforscher Gerhard Roth1 hat schon vor 30 Jahren belegen können, dass eine vermeintlich bewusste Entscheidung nicht selten im Gehirn vorbewusstlich getroffen wird, wir davon also nichts mitbekommen. Dies belegt neurophysiologisch Sigmund Freuds Hypothese, dass wir nicht Herr im eigenen Haus unseres Bewusstseins sind. Damit uns diese alten Muster keine Streiche spielen, sondern sich vielleicht in Ressourcen verwandeln lassen, ist die Beschäftigung mit tiefenpsychologischen Konzepten sinnvoll. Auch und gerade bei der Entwicklung einer Interpretation eines Musikstücks.
Mark hat bei der Frage seiner Dozentin nach einem persönlichen Bild bei der Entwicklung des melancholischen Gehalts der chromatischen Phrase eine Episode vor seinem inneren Auge. Er versetzt sich in eine Situation, als er Grundschüler war: Seine Eltern waren mit ihm in eine andere Stadt umgezogen, sodass er die Schule wechseln musste. Dieser erste Tag in der neuen Schule ist immer noch sehr präsent. Er fühlt sich ein in die Situa­tion, in der er den Klassenraum betritt und kein anderes Kind kennt. Er ist verunsichert. Er sehnt sich zurück in die alte Schule mit den ihm vertrauten Kindern. Das Gefühl, das sich dabei einstellt, kann er gut dosieren. Es überflutet ihn nicht. Er setzt es ein bei der Interpretation. Seine Dozentin begleitet ihn dabei behutsam. Sie fragt nach, ob das gewählte Bild nicht zu belastend sei. Mark verneint: „Das ist schon so lange her. Und schließlich ist es gut ausgegangen. Schon am Folge-Tag habe ich einen Jungen in meiner neuen Klasse kennengelernt, der ist bis heute einer meiner besten Freunde.“
Diese Art des assoziativen Arbeitens am emo­tionalen Ausdruck ist kein Privileg der Musik, auch in der Bildenden Kunst und im Schauspiel wird neben der technischen Kompetenz Gefühl verhandelt. Das stellt besondere Anforderungen an die Lehrenden. Marks Dozentin ist sich bewusst, dass dieser Teil der künstlerischen Ausbildung viel Einfühlung erfordert. Sie fragt nach, schreibt nicht vor, sondern lässt Mark eigenständig individuelle Bilder entwickeln.2 Sie stärkt sein Gefühl von Selbstwirksamkeit3 und vermittelt, dass die Integration alter Bilder, auch wenn sie bisweilen belastend sind, eine essenzielle Ressource sind für die Entwicklung der eigenen künstlerischen Persönlichkeit. Da sie selbst an einer tiefenpsychologischen Selbsterfahrung teilgenommen hat, begleitet sie den Prozess nicht nur intuitiv, sondern sehr bewusst. Sie weiß um die Möglichkeit einer Affektüberflutung, wenn der oder die Studierende beispielsweise von alten Bildern so stark belastet wird, dass die Emotionen künstlerische Arbeit für den Moment verunmöglichen können.4

2. Wie Tiefenpsychologie die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden stärkt

Der Kanon an Kompetenzen, der von Lehrenden verlangt wird, ist sehr umfänglich. Zu ­unterscheiden sind explizite von impliziten Fähigkeiten. Explizit ist unzweifelhaft die exzellente technische und künstlerische Kompetenz für das repräsentierte Fach. Für den pädagogischen Bereich werden didaktische und methodische Inhalte abgefragt. Was aber sind die essenziellen impliziten Aspekte, die eine gute Lehrkraft zur exzellenten Lehrkraft machen? Auch hier hat die Hirnforschung in den vergangenen Jahren wertvolle Beiträge geliefert. Nach Roth5 sind dies neben der Kompetenz im Bereich des Lehrgegenstands vor allem Glaubwürdigkeit und Einfühlungsvermögen. Beide psychologischen Qualitäten finden sich kaum in den Curricula (musik-)pädagogischer Studiengänge. Thematisiert werden sie – dann aber eher implizit – erst in den praktischen Ausbildungsteilen. Gute AnleiterInnen werden von ihren Erfahrungen berichten, wie sie Schülerinnen und Schüler zur selbstständigen Arbeit am Instrument oder im Gesang motiviert haben, wie sie sie vor Druck erzeugenden, erhöhten Erwartungen des Umfelds geschützt und wie sie ihren Schülerinnen und Schülern eine jederzeit vertrauensvolle Beziehung ermöglicht haben. Hat man Pech, bekommt man schon mal gesagt, dass gutes Unterrichten nicht lehrbar sei, da müsse jeder seinen eigenen Weg finden.
Täglich begegne ich Parallelen zwischen meinen beiden Berufen, dem des Psychotherapeuten und dem des Musikpädagogen. Das beginnt schon beim Setting: Zwei Menschen begegnen sich in einem weitgehend abgeschirmten Raum. Die formale Beziehung ist asymmetrisch: Einer ist der Ratsuchende, die andere die Expertin. Der Prozess des Kompetenzgewinns dauert länger und basiert maßgeblich auf einer stabilen und freundlichen Beziehung. Und: Der Ratsuchende muss sich sicher sein können, dass die Beziehung einzig und allein dazu da ist, seine Themen anzuschauen. Den PsychotherapeutInnen hilft hierbei in ihrer Ausbildung eine fundierte Selbsterfahrung von wenigstens 150 Stunden. Während der praktischen Ausbildung stellen sie nach jeder vierten Stunde ihre Ausbildungsfälle einer Supervisorin vor. Vergleichbares findet sich in der Ausbildung von MusikpädagogInnen bislang nicht. Zu wünschen wäre das allemal, weil es auch helfen könnte, das Risiko für grenzverletzendes Verhalten in musikpädagogischen Kontexten zu verringern.

1 Roth, Gerhard: Bildung braucht Persönlichkeit. Tiefenpsychologie und Neurowissenschaft, Stuttgart 2021.
2 vgl. Wolters, Gerhard: Wege aus der Eintönigkeit. ­MultiDimensionaler InstrumentalUnterricht oder Die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung (fast) vergessener Unterrichtsformen, Frankfurt am Main 2000.
3 vgl. Hüther, Gerald: Etwas mehr Hirn bitte!, Gelsenkirchen 2018.
4 vgl. Abilgaard, Peer: Stabilisierende Psychotherapie, Stuttgart 2013.
5 siehe Anm. 1.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2025.