Rüdiger, Wolfgang
Der Einzelne und der Geist des Ganzen
Wie wird ein Ensemble zum Ensemble?
Großartiges gab es im September in Karlsruhe bei WESPE – WochenEnde der SonderPreisE und Höhepunkt von “Jugend musiziert” – zu hören und zu sehen: Zwölf junge MusikerInnen aus Weimar spielten Hindemiths Kammermusik Nr. 1 op. 24 mit einer solchen Energie, Klangpracht und Kommunikationslust, dass man förmlich ins Ensemble hineingezogen wurde. Exzellentes Zusammenspiel und einzigartige solistische Leistungen gingen dabei Hand in Hand. Und die Zwölf spielten das groß besetzte Werk ohne Dirigent. Wie kann das gelingen?
Professionelle Vorbilder für solch kommunikatives Ensemblespiel auch in größeren Besetzungen gibt es durchaus, man denke an das berühmte New Yorker Orpheus Chamber Orchestra, das grundsätzlich ohne Dirigent spielt und die musikalischen Aufgaben (Führen und Folgen, Erarbeiten eines Proben- und Interpretationskonzepts, Abhören von Klangbalance, Dynamik etc.) demokratisch untereinander aufteilt.1 Wie aber können Kinder und Jugendliche von Beginn an herangeführt werden an ein solch erfülltes Ensemblespiel voll Freude, Musikalität und lebendiger Kommunikation, das den Namen wirklich verdient? Denn nicht alles, was als Ensemble auftritt, ist auch eines im gesteigerten Sinne des Wortes, erlebt man doch immer wieder Musiker, die technisch sauber, aber steif und langweilig lediglich „zur gleichen Zeit am gleichen Ort“ spielen, ohne dass sich das gewisse Etwas einstellt, das ein Ensemble zum Ensemble macht.
Was also bedeutet Ensemble, was macht Ensemblespiel im qualitativen Sinn aus und wie können junge InstrumentalistInnen das selbstständige Arbeiten, Proben, Musizieren im Ensemble erlernen? Klären wir zur Beantwortung dieser Fragen zunächst die Wortherkunft und den Begriffssinn von Ensemble, um von dort aus die Grundlagen gemeinsamen Musizierens und das Besondere in den Blick zu nehmen, das Ensemblespiel zu einem Sinnbild menschlichen Miteinanders macht.
Ensemble – Etymologie und Definition
Das französische Wort ensemble gründet im lateinischen in-simul und bedeutet „zusammen“, „zugleich“, „gemeinsam“. Als Substantiv meint Ensemble „das Zusammenwirken“, „das Ganze“, aber auch „Harmonie“ und „Einigkeit“, was darauf verweist, dass in simul und en-sem-ble das indogermanische Wort sem = eins steckt. Diese Ursilbe enthalten auch verwandte Wörter wie simultan = gleichzeitig, similis = ähnlich, Simulation = Vortäuschung oder simpel = einfach.
In der Bedeutungsweite von Ensemble als simple Gleichzeitigkeit („ensemple“) einerseits und sichtbare Einigkeit andererseits lässt sich bereits der Unterschied zwischen einem quantitativen und qualitativen Ensemblebegriff ausmachen, der auch einige historische Definitionen prägt. So unterscheidet Jean-Jacques Rousseau in seinem Artikel „Ensemble“ im Dictionnaire de musique von 1767 die (seltenere) kompositionsästhetische Bedeutung von Ensemble als „wohlabgewogene Beziehung aller Bestandteile eines Werkes unter sich und auf das Ganze“ vom performativen Begriffssinn: „wenn die Mitwirkenden in der Intonation oder im Rhythmus so vollkommen übereinstimmen, daß sie nur von einem einzigen Geist beseelt scheinen und die Ausführung all das getreu zu Gehör bringt, was das Auge in der Partitur wahrnimmt. Ein solches ENSEMBLE hängt nicht nur von der Geschicklichkeit ab, mit der jeder seinen Part liest, sondern von der Intelligenz, mit der er deren besonderen Charakter nachempfindet, und von der Einfügung ins Ganze – betreffe diese nun eine genaue Phrasierung, genaue Befolgung der Tempi, die rechtzeitige und wohldosierte Ausführung der forte- und piano-Vorschriften […]. Die Musiker mögen so geschickt sein, wie sie wollen: Ein ENSEMBLE wird nur zustandekommen, sofern sie selbst den Geist besitzen, welcher der von ihnen gespielten Musik eigen ist, und sofern sie aufeinander hören.“2
Fassen wir die zentralen Aspekte zusammen, so ergibt sich als Kernidee von Rousseaus Ensemble-Definition ein beziehungsreiches Verhältnis von Einzelnem, Anderen und Ganzem in der gemeinsamen Aus- und Aufführung von Musik, die ihrerseits eine „wohlabgewogene Beziehung“ zwischen Teilen und Ganzem beschreibt, sei es in Form einer Komposition oder einer Improvisation. Das Ganze ist dabei etwas anderes als die Summe seiner Teile, deren Eigenschaften von dem „Geist“, sprich Struktur und Ausdrucksgehalt des Ganzen bestimmt und moduliert werden (ein Leitsatz der Gestalttheorie). Auf die Ausführenden bezogen: Die einzelnen SpielerInnen verändern sich durch die Anderen und das musikalische Ganze, das sie gemeinsam gestalten.
1 Eine Arbeitsweise, die Vorbildcharakter für Schulen und Unternehmen besitzt, vgl. die Dokumentation von Ayelet Heller: Orpheus in der Business-Welt. Das Management-Modell des Orpheus Chamber Orchestra, EuroArts/SFB/WDR/arte 2002.
2 Jean-Jacques Rousseau: Artikel „Ensemble“ aus dem Wörterbuch der Musik (1767), in: Jean-Jacques Rousseau: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, hg. von Peter Gülke, Leipzig 1989, S. 253.
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