Lehmann, Christian

Der genetische Notenschlüssel

Warum Musik zum Menschsein gehört

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Herbig, München 2010
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 59

In den vergangenen Jahren ist eine Reihe von Literatur zum Thema Musik und Neurobiologie (Spitzer, Altenmüller etc.) veröffentlicht worden. Das Buch von Christian Lehmann stellt eine begrüßenswerte Erweiterung dar: Das Wissen über den musizierenden Mensch wird um den evolutionsbiologischen Pfad ausgeweitet. Steckt uns Musik in den Genen? Als studierter Biologe, Musikwissenschaftler, Germanist und Sänger kann der Autor nahezu alle (nicht nur musikalischen) Register ziehen.
Das Buch bietet LeserInnen unterschiedlicher Interessensgebiete ausreichend Stoff, um das Wissen zur Faszination Musik zu erweitern. Lehmann erklärt mit den Bereichen „Natur“ und „Kultur“ die Pfade der evolutionsbiologischen Grundlage der Musik. Das Buch ist dabei aufgrund seiner komplexen Gedankengänge nicht einfach zu lesen. Man muss wiederholt innehalten und den „Grundton“ wiederfinden: Welche These wird gerade behandelt, worauf will der Autor hinaus? Und ein Glossar wäre hilfreich: Begriffe wie „Aurignacien“ fordern auch Gebildete heraus.
Die bereits erwähnte Vielfalt ist eindrucksvoll: von Beiträgen zu diversen Reformen, denen das Schulfach Musik immer wieder unterzogen wurde – es sollte laut Lehmann zeitweise sogar umbenannt werden in „Auditive Wahrnehmungserziehung“ – bis zu Berichten über die Gesänge der Buckelwale. Warum der Buckelwal mit seinem lateinischen Namen bezeichnet wird, der Seidenlaubenvogel dagegen nicht, bleibt dahingestellt. Derartige Stringenz hätte das Buch in vorteilhafterem Licht erscheinen lassen. Dies gilt auch für die Hinzuziehung aktueller Literatur: So versucht Lehmann eine Nichtwirksamkeit von Musik- und Psychotherapie mit einer Aussage von 1986 zu belegen (diese Aussage ist darüber hinaus nicht haltbar).
Für wen eignet sich das Buch? Interessierte MusikliebhaberInnen werden fündig, einige Kapitel liefern MusikpädagogInnen wichtige Hintergründe. Sängerinnen und Sänger werden erfahren, was sie schon immer wussten: dass Singen sehr ursprünglich und fast überlebensnotwendig ist. Doch Orchestermusiker und Instrumentalpädagogen fragen sich bei der sehr auf das Singen bezogenen Lektüre sicher, ob sie auf Gesang umsatteln sollten.
Singen ermöglichte laut Autor evolutionsgeschichtlich eine erste Kommunikationsform zwischen Mutter und Kind. War es wirklich so? Niemand wird es wissen. Diese Frage wird von Lehmann  ausgemalt, indem er fiktive Dialoge und Situationen in den wissenschaftlichen Text einfließen lässt: So zeichnet er nicht nur das Bild von einer Mutter-Kind-Interaktion, wie sie vor Jahrtausenden hätte aussehen können. Auch für die heutige Zeit entwirft der Autor Bilder, um den Musikeinfluss im heutigen Leben zu beschreiben. Ob er dabei vielleicht manchmal zu weit ins Klischeehafte geht, sei dem Urteil des Lesers überlassen…
Gudrun Müller