Bikos, Konstantin

Der Geruch der mongolischen Steppe in deutschen Konzert­sälen

Das Bundesjugendorches­ter betritt auf seiner aktuellen Tournee kulturelles Neuland

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 1/2009 , Seite 40

20 junge Gesichter starren Amartuwshin Baasandorj an, als hätte er gerade ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert. Dabei singt er ihnen nur etwas vor. Zunächst ist bloß ein mahlendes Brummen zu hören. Es klingt nach Kehlkopf. Doch plötzlich teilt sich seine Stimme: Das monotone Dröhnen ist noch präsent, aber darüber erklingt metallen eine Melodie. Khöömii heißt die wundersame Technik: Obertongesang.
„Ich hätte nie gedacht, dass man mithilfe der Obertonreihe zwei Noten gleichzeitig singen kann“, staunt die 18-jährige Anika Weichelt, während der Rest der Gruppe versucht, es dem Workshopleiter gleich zu tun. Doch kunstvolles Grummeln will geübt sein: Noch klingen die Stimmen viel zu weich und so mancher bezahlt seine Bemühungen mit einem Hus­tenanfall. „Das wird schon“, lacht Enk­hjargal Dandarvaanchin, der den Gesang auf der Pferdekopfgeige Morin Khur begleitet.
In ihrer Originalform hat es traditionelle ­außereuropäische Musik hierzulande nicht leicht. Zwar benutzen westliche Komponisten sie gerne als Inspirationsquelle oder exotisches Klanggewürz. Und mit der Entdeckung der „Weltmusik“ als Vermarktungskonzept hat die Musikindustrie unserer Popkultur einen bunten Anstrich verliehen. Doch wer sich dem Original widmet, wer sich in jene balinesische Gamelanmusik oder ghanaischen Trommelrhythmen vertieft, die einst Claude Debussy und Steve Reich inspirierten, wird nicht selten belächelt.
Umso bemerkenswerter ist, wer sich hier, im Jugendbildungszentrum Blossin bei Berlin, traditioneller mongolischer Musik annähert: Die 20 MusikerInnen sind Mitglieder des Bundesjugendorchesters und gehören damit zur jungen deutschen Musikelite. Seit einem Jahr werden sie von drei mongolischen Musikern unterrichtet. Ihr Ziel: „Den Geruch der mongolischen Steppe in unsere Konzertsäle tragen“, wie es Bernhard Wulff formuliert. Der Freiburger Schlagzeugprofessor setzt sich im Rahmen seiner Musikprojekte immer wieder für einen respektvollen interkulturellen Dialog ein, und auch diese ungewöhnliche Begegnung hat er initiiert.
Das Orchester, vor 40 Jahren vom Deutschen Musikrat gegründet, bereitet hier seine ak­tuelle Tournee vor. Ein spektakuläres Programm hat Projektleiter Sönke Lentz zu­sammengestellt. Den Anfang macht Arthur Honeggers Werk Pacific 231, das eine Fahrt mit der gleichnamigen Dampflokomotive beschreibt. An Bord der „Pacific“ begibt man sich unter dem Dirigat des gebürtigen Sibirers Kirill Petrenko auf eine Abenteuerreise entlang der transsibirischen Eisenbahn, zu den Musikkulturen am Wegesrand. Tan Dun repräsentiert China mit dem Paper Concerto; Igor Stravinskys Feuervogel vertritt Russland. Und die Mongolei klingt nach Khöömii.
Doch was zunächst aussieht wie eine harmlose musikkulturelle Spielerei, birgt einen immensen pädagogischen und kulturpolitischen Mehrwert. Da sind etwa musikalische Fähigkeiten, die sogar in einem Spitzenorchester vernachlässigt werden: Improvisa­tion und rhythmische Flexibilität. Am nächs­ten Tag sollen die Musiker die Sängerin Samdandamba Badamkhorol spontan instrumental begleiten. „Das war schwierig, das ist eine ganz andere Art zu musizieren“, sagt der Oboist Juri Schmahl später. Und die Violinis­tin Julia Ungureanu ergänzt: „Das sollte jeder Musiker mal gemacht haben. Da lernt man wirklich etwas dazu.“
Damit nicht genug: Die mongolische Ästhetik lebt von einer wohldosierten rhythmischen Distanz zwischen Gesang und Begleitung. Musiker, die sich von klein auf rhythmische Präzision antrainiert haben, müssen sich an diese Freiheit erst einmal gewöhnen. Doch Anika Weichelt sieht das positiv: „Durch den Präzisionsdrang im Orchester leidet oft der musikalische Ausdruck. Hier merke ich, wie wichtig es ist, mein Herz preiszugeben.“
Wulff geht es bei dem Projekt auch darum, „den Musikern die Augen zu öffnen für den Wert des Fremden“. Dabei gehe es nicht nur um die Musik anderer Kulturen: „In der Wahrnehmung sind das Fremde und das Neue unweigerlich miteinander verknüpft.“ Die Begegnung solle den jungen Musikern auch helfen, ihr Gehör für westliche Neue Musik zu schärfen.
Dass ihr Gesang gewissermaßen auch in der mongolischen Steppe hörbar ist, ahnt wohl keiner der Musiker. „Junge Mongolen hören lieber Britney Spears“, erzählt Samdandamba Badamkhorol, die in der Heimat um das Überleben ihrer uralten Kunst kämpft. Bernhard Wulff sieht in dem Projekt eine Chance, diesem Trend entgegenzuwirken. „Wenn die traditionelle Musik von einem wichtigen deutschen Orchester gespielt wird, hat das in der Mongolei eine Signalwirkung.“
Bei aller musikalischen Brillanz des Orches­ters: Die Einwilligung einiger Musiker, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, ist eine ebenso große Leistung. Denn in einer zunehmend globalisierten Musikwelt wird Offenheit immer mehr zur Pflicht. Vielleicht ist das etwas, das die Profi-Orchester vom Nachwuchs lernen können. Es bleibt zu hoffen, dass traditionelle außereuropäische Musik durch dieses Projekt hierzulande zukünftig mehr Wertschätzung erlebt. „Alles, was wir erleben, ist eine Inspiration“, sagt Anika Weichelt. Und vielleicht sollte die Reise des Bundesjugendorchesters nicht in Wladiwostok enden: Es gibt noch viel zu entdecken.

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