Grow, Joana

„Der Junge spielt Blockflöte“

Musikbezogene Doing Gender Prozesse

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2022 , Seite 18

Doing Gender passiert oft unbewusst und führt dazu, dass wir Geschlech­ter­rollen an die nächste Generation weitergeben. Doch was genau bedeutet Doing Gender und wie funktioniert es? Wie kann Doing Gender erkannt werden und warum sollten auch Musikpädagog*innen reflektiert mit Doing Gender Prozessen umgehen? Antworten auf diese Fragen mögen zu einem gender­sensiblen Verhalten (nicht nur) im Musikunter­richt beitragen.

Stellen Sie sich folgende Situation im Musikunterricht einer dritten Klasse vor.1 Die Musiklehrkraft fragt die Schüler*innen, wer ein Instrument spielt. Einige Kinder melden sich und werden nacheinander aufgerufen.

Lehrkraft: „Paul, was spielst du?“
Paul: „Blockflöte.“
Johan: „Blockflöte? Oh…“
Emma: „Ja, bei meinem Flöten haben wir auch einen Jungen. Man kann doch machen, was man will!“
Lehrkraft: „Emma, was spielst du?“
Emma: „Auch Flöte.“
Lehrkraft: „Und du Lina?“
Lina: „Schlagzeug.“
Lehrkraft: „Echt? Cool!“
Einige Jungen fangen an, Luftschlagzeug zu spielen, machen Geräusche dazu.
Lehrkraft: „Vincent?“
Vincent: „Auch Schlagzeug.“
Lehrkraft: „Na, das passt.“

Bestimmt sind Ihnen Inhalte und Reaktionsmuster bekannt. Sie kennen eher Mädchen, die Blockflöte lernen, und Jungen, die Schlagzeug spielen. Jungen, die Blockflöte spielen, erscheinen uncool. Mädchen, die Schlagzeug spielen, werden hingegen als cool hervorgehoben. Woher kommen diese Geschlechterrollen? Warum gibt es sie bei heutigen Drittklässlern schon oder immer noch? Wie finden Sie das – problematisch? Und wenn ja, warum? Welche Reaktion hätten Sie sich von der Lehrkraft gewünscht? Wie hätten Sie reagiert?
Im Folgenden wird das Konzept des Doing Gender, das entsprechende Muster erklärt, vorgestellt und die Bedeutung des Doing Gender für die Musikpädagogik betrachtet. Mit einem Blick auf die Unterrichtspraxis wird abschließend gefragt, wie Lehrkräfte mit Doing Gender umgehen können.

Was meint Doing Gender?

Während in der Biologie „Geschlecht“ determiniert wird und dazu auf Geschlechtszellen, aber auch auf Merkmale wie Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen oder Genitalien zurückgegriffen wird, meint „Gender“ den Umgang mit dem zugewiesenen oder gewählten Geschlecht. Eine Person verhält sich so, dass sie in ihren alltäglichen Praktiken von anderen mit dem gewünschten Geschlecht gelesen wird, weil ihr Aussehen und Verhalten stimmig sind. Gender wird immer hergestellt. Dieser Prozess der Geschlechterdifferenzierung, also der (inter)aktiven Herstellung von Geschlecht, wird von Candance West und Don H. Zimmerman als „Doing Gender“2 bezeichnet. Doing Gender greift also auf ein Repertoire von Schemata von Handeln, Wahrnehmung und Bewertung zurück, welche Geschlecht klassifizieren. Da dieser Prozess der Herstellung systematisch und in unserer Gesellschaft in der Regel binär – also mit Bezug auf die Geschlechter männlich und weiblich – erfolgt, erscheint Geschlecht als naturgegeben. Im Sinne des Doing Gender Ansatzes ist Geschlecht somit eine Prozesskategorie, mithin keine Struktur- oder Identitätskategorie. Fokussiert werden nicht innere Prozesse von Personen, sondern die Interaktionen zwischen ihnen.
Diese Differenzierungspraktik wird von Stefan Hirschauer in ihrer Unvermeidbarkeit kritisiert. Er zeigt, dass die Bedeutung von Geschlecht auch unterlassen oder neutralisiert werden kann, und bezeichnet dies als „Undoing Gender“.3 Überschlägt beispielsweise eine Frau (im Sinne einer weiblich gelesenen Person) im Vorstellungsgespräch eher und anders die Beine als ihr männliches Gegenüber, hat sie gelernt, dass ihr Verhalten vor dem Hintergrund von Geschlecht und vermeintlich entsprechendem Verhalten gedeutet wird. Das Doing kann dabei bewusst wie unbewusst sein.
Im Beispiel klingt schon an, dass im Doing Gender auch Machtpositionen verteilt werden. Im täglichen Doing Gender stützt sich die Legitimierung von Ungleichheiten in der Regel auf Stereotype. Doing Gender passiert also auch und insbesondere vor dem Hintergrund von Genderstereotypen. Diese umfassen sozial geteiltes Wissen über Charakteristika von Frauen und Männern. Und obgleich Genderstereotype Orientierung bieten und somit im Handeln entlasten, hemmen sie die individuelle Entwicklung. Besonders problematisch erscheint darüber hinaus, dass die geschlechterstereotypen Rollenvorbilder mit Machtstrukturen verbunden sind, wodurch sie soziale Ungerechtigkeit durch sexistische Verhaltenserwartungen reproduzieren.4 Im Sinne des Konzepts hegemonialer Männlichkeit wird Männlichkeit mit (dem Zugewinn an) Macht konnotiert. Die Orientierung an diesem Männerbild scheint gesellschaftlich weiterhin vorteilhaft. Ein Abweichen von diesem dominanten Männlichkeitsstereotyp ist somit erschwert.5
Kinder wachsen in einer gegenderten Umgebung auf. Geschlecht wird um sie herum als soziale Unterscheidung dargestellt, der sie sich (in der Regel) zuordnen und die sie damit reproduzieren. Kinder sind somit daran gewöhnt, dass es Mädchen- und Jungenkleidung gibt, die sich in der Farb- und Motivwahl, aber auch im Schnitt unterscheiden. Sie haben pinke oder blaue Schulranzen und kennen Spielzeugabteilungen für Jungen mit Autos, Rittern und Weltraum und für Mädchen mit Pferden, Prinzessinnen und Haushaltsgegenständen. Gerade kürzlich wurde der Goldene Zaunpfahl für absurdes Gendermarketing einer führenden Drogeriekette für geschlechtsspezifischen Badeschaum verliehen.6 Auch für Verhalten und Fähigkeiten finden sich entsprechende Gegenüberstellungen: Jungen gelten als wilder und unangepasster, während Fürsorge und Angepasstheit als angemessenes Verhalten für Mädchen angesehen werden. Jungen sind vermeintlich besser in Naturwissenschaften, Mädchen in Sprachen.
Dass Kinder täglich auf diese geschlechter­stereotypen Rollenvorbilder treffen, zwingt sie ständig und in immer früherem Alter zu einer Positionierung in einem Un/Doing Gender. Aussagen wie „Mädchen mögen halt lieber rosa“ oder „Ich habe meine Kinder genau gleich erzogen und trotzdem ist der Junge ganz anders als das Mädchen, es muss an den Genen liegen“, zeigen wie verankert ein unreflektiertes Doing Gender in unserer Gesellschaft ist.
Die häufige Behauptung, Gender und Doing Gender würde in „unserer“ Einrichtung keine Rolle spielen, widerspricht wissenschaftlicher Forschung. Franziska Vogt u. a. zeigen für Krippen, dass Betreuungspersonen kindliches Verhalten, sei es Doing oder Undoing Gender, verstärken, jedoch selten intervenieren, um Gleichstellung herzustellen.7 Melanie Kubandt zeigt für Kindergärten die Diskrepanz zwischen Äußerungen der Erzie­her*innen zu gendergerechtem Verhalten und tatsächlich ungleichheitskonstruierender Geschlechterdifferenzierung.8 Und auch für den Unterricht wissen wir, dass Lehrkräfte „Doing Gender Praxen wesentlich mit[gestalten], als Vorbilder [agieren] und Stereotype verstärken oder abbauen [können]“.9

 

1 Die Situation wurde beobachtet in einer Musikstunde einer dritten Klasse einer Braunschweiger Grundschule im Sommer 2018 im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Hörpräferenzen von Schüler*innen.
2 Candance West/Don H. Zimmerman: „Doing Gender“, in: Gender & Society, 1. Jg. (1987), H. 2, S. 125-151.
3 Stefan Hirschauer: „Die soziale Fortpflanzung der Zwei-Geschlechtlichkeit“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46 Jg. (1994), H. 4,
S. 668-692.
4 Birgit Palzkill/Frank Pohl/Heidi Scheffel: Diversität im Klassenzimmer*. Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in Schule und Unterricht, Berlin 2020, S. 19.
5 Robert W. Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999.
6 Bericht unter https://goldener-zaunpfahl.de/es-reicht-dm-drogerie-markt-bekommt-eigene-nominierung (Stand: 27.12.2021).
7 Franziska Vogt/Julia Nentwich/Wiebke Tennhoff: „Doing und Undoing Gender in Kinderkrippen: Eine Videostudie zu den Interaktionen von Kinderbetreuenden mit Kindern“, in: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 37. Jg. (2015), H. 2, S. 227-247.
8 Melanie Kubandt: Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie, Opladen 2016.
9 Palzkill et al., S. 40.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2022.