Hagedorn, Volker

Der Klang von Paris

Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Rowohlt, Reinbek 2019
erschienen in: üben & musizieren 3/2019 , Seite 49

Paris im 19. Jahrhundert: Niccolò Paganini begeistert die Massen und eine junge Kritikerin namens Aurore Dudevant – die sich später George Sand nennen wird – verfasst eine Hymne auf den „Teufelsgeiger“. Giacomo Meyerbeer schreibt an seiner Oper Robert le diable und Opernmanager Louis-Désiré Véron testet mit dieser Produktion die technischen Grenzen der Pariser Oper aus (weshalb es bei der Uraufführung auch jede Menge Pannen gab, etwa als plötzlich ein Träger mit Gasleuchten direkt neben einer Sängerin zu Boden krachte). In der Stadt wütet die Cholera und Frédéric Chopin eilt mit Franz Liszt durch die Gassen und beobachtet, wie die Toten aus den oberen Stockwerken der Häuser heruntergelassen werden. Hector Berlioz hat endlich seine Angebetete, die Schauspielerin Harriet Smithson, geheiratet und ein junger Mann namens Richard Wagner will mit Meyerbeers Hilfe Paris erobern und macht sich mit seiner schroffen Art letztlich bei allen unbeliebt.
Unmittelbar und einfühlsam beleuchtet der Journalist und Musiker Volker Hagedorn das Paris des 19. Jahrhunderts. Er erzählt von Unruhen und Begegnungen in Salons – all das in einer sehr präsenten Prosa, die direkt ins Geschehen führt. Der Leser begleitet Gioachino Rossini zum Essen und ins Fotostudio, hört Franz Liszt bei seinen Improvisationen zu, erlebt den Streit zwischen Wagner und Berlioz um die Anrede „cher maître“ und stürmt mit Jacques Offenbach durch dessen hektischen Tagesablauf. Ganz tief begibt sich Volker Hagedorn in die Klänge, die Gerüche und Geräusche des damaligen Paris, er sieht seinen prominenten Protagonisten über die Schulter, erlauscht ihre Gespräche und ihre Musik, etwa das Klavierspiel des lampenfiebergeplagten Chopin: „Was man sonst Verzierungen nennt, sind Gedanken und Zärtlichkeiten, oder ein Flug zu neuen Räumen wie jene unfassbar glitzernde Kette der Rechten, 48 Töne, verteilt auf etwas mehr als einen Takt.“ Hier zeigt sich Hagedorn als Musikkenner, der Töne in Worte übersetzen kann und sie so über die Jahrhunderte hinweg spür- und erlebbar macht.
Aber Volker Hagedorn befasst sich nicht nur mit der Vergangenheit: Immer wieder durchbricht er seine Zeitreise und kehrt in die Gegenwart zurück, zu seiner eigenen Reise auf den Spuren der Musiker von damals. Er spricht mit dem Offenbach-Kenner Jean-Christophe Keck über die Bedeutung des so oft unterschätzten Komponisten, macht sich mit dem Klavierrestaurator Olivier Fadini auf die Suche nach dem „son perdu“, dem verlorenen Klang und landet schließlich sogar in Schottland, wo er die Initiatoren einer Berlioz-Webseite trifft. So liefert Hagedorn nicht nur beste Unterhaltung, sondern spannt gleichzeitig einen großen Bogen vom Gestern zum Heute – einem Heute, in dem das versunkene Paris von Meyerbeer, Berlioz, Chopin oder Offenbach immer noch nachklingt.
Irene Binal