Lang, Frauke

Der Raum als „dritter Pädagoge“

Das Kulturzentrum Seidl-Mühle in Ismaning als Beispiel eines wegweisenden synergetischen Bildungsangebots

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 2/2010 , Seite 34

Erreicht man in Ismaning im Osten Münchens das Kultur- und Bildungszentrum Seidl-Mühle, so erstreckt sich vor einem ein gepflegter, zwischen der ursprünglichen Bausubstanz eines alten Sägewerks und moderner Architektur gekonnt balancierender U-förmiger Gebäudekomplex. Hier fanden im Sommer 2009 nicht nur eine, sondern gleich vier bildende Institutionen zusammen: Musikschule, Bibliothek, Volkshochschule und Blasorches­ter symbiotisch vereint unter einem Dach.
Betritt man den Mittelteil der Anlage – die Bib­liothek –, warten nicht nur Bücher, DVDs etc. in den großzügigen Räumlichkeiten: In der „Medienlounge“ auf einer nahezu frei schwebenden Ebene gibt es mehrere Internetzugän­ge, in der Ebene darüber laden Sessel mit Musikanlage zum Nutzen der umfassenden CD-Sammlung ein; wer dabei mitlesen möchte, bedient sich in der Notenabteilung. Bereits hier zeigen sich Synergieeffekte in beispielhafter Weise: Fordert z. B. die Musiklehrerin ihren Schüler auf, sich eine Aufnahme eines Stücks zu besorgen, nimmt dieser vielleicht im Vorbeigehen Harry Potter mit, möchte ein lesewilliges Kind die blauen Musiksessel ausprobieren, landet es möglicherweise versehentlich bei Brahms. Auch den Volkshochschul-Besuchern wird die Weiterbildung leicht gemacht: Im hauseigenen Lese­café lassen sich Kursinhalte vertiefen, das im Café integrierte „Amphitheater“ bietet Raum für kleinere, kulturell übergreifende Darbietungen. Auch ein „Randprodukt“ im Unter­geschoss begeistert nicht nur Kinder: das „Bullauge“, ein Fenster, welches ungehinderte Sicht in den an der Seidl-Mühle vorbeifließenden Bach und damit in das Ökosystem der Ismaninger Fische bietet.
Den Gebäudeflügel zur Rechten belegen Musikschule und Blasorchester. Auch hier ergeben sich erst durch die Räumlichkeiten die gigantischen Möglichkeiten des gesamtpäd­gogischen Konzepts. Die Gänge zu den ­Unterrichtsräumen werden regelmäßig mit wechselnden Ausstellungen bestückt, kleine Informationstafeln verkürzen die Wartezeit der SchülerInnen mit Kurzbiografien von Komponisten. Sämtliche Unterrichtsräume sind mit Internetzugängen ausgestattet. Für den Bereich Musiktheater existiert ein Ballettraum, in dem die Schülerinnen und Schüler auch den Umgang mit dem Mikrofon einstudieren, darüber hinaus gibt es Überäume und einen Seminarraum. Auch der Konzertsaal überzeugt durch Akustik und modernste Technik; in einem Regieturm ist eine komplette Licht- und Tontechnikanlage installiert, sodass hochwertige Aufnahmen produziert werden können.
Doch auch die musikschulinternen Inhalte gehen über das Standardangebot einer modernen Musikschule hinaus: Neben dem weithin bekannten Instrumentenkarussell gibt es z. B. eine „Klangwerkstatt“, in der die Kinder Instrumente mit simplen Mitteln selber bauen und somit physikalisch Tonerzeugung begreifen und den handwerklichen As­pekt erfahren lernen. Handwerkliches Inte­resse kann auch in dem hauseigenen kleinen Museum befriedigt werden, in dem die ört­liche Industrialisierung am Beispiel der Säge ausgestellt wird.
Auch im geragogischen Bereich ist die Musikschule aktiv: So gehen z. B. neben Seniorengruppen, die gemeinsam mit Veeh-Harfen musizieren, musiktherapeutisch ausgebildete MusikpädagogInnen in Altersheime, um mit den Menschen dort zu musizieren. Hierbei handelt es sich häufig um an Demenz oder Parkinson erkrankte Menschen, denen die Musik hilft, Erinnerungsfenster zu öffnen und damit eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen. Die Nachwirkungen im Alltag sind spürbar: Infolge der Musikstunden werden die BewohnerInnen zugänglicher, weniger aggressionsbereit, der Alterseinsamkeit wird entgegengewirkt.
Darüber hinaus kooperiert die Musikschule eng mit Ismaninger Schulen, woraus wiede­rum besondere Projekte entstehen können: So wird z. B. für SchülerInnen der Hauptschule ein Projekt angeboten, bei dem ein Song selbst produziert wird. Möglich wird dies durch den EDV-Raum der Volkshochschule, die den linken Gebäudeflügel belegt. Hier stehen zwölf Computer bereit, ausgestattet mit spezieller Musiksoftware, an denen die SchülerInnen ihren Song Spur für Spur eingeben können. Der Text entsteht im Deutschunterricht, wo die Kinder für sie relevante Themen herausfiltern und in einem Rap kanalisieren. Eingesungen wird das ­Ganze im Audio-Raum der Musikschule. Hier können auch für den regulären Instrumentalunterricht problemlos Playalong- und Übe-CDs erstellt werden.
Der in der Volkshochschule vorhandene Kino­saal ermöglicht z. B. ein Programmkino, wo die Filme live musikalisch untermalt werden – eine ideale Möglichkeit, sich mit akustischen Phänomenen und der Wirkung von Filmmusik auseinanderzusetzen. Die räum­lichen Gegebenheiten auf dem Hof sind geschaffen für Open-Air-Konzerte o. Ä. In einer derartigen Fülle kultureller Möglichkeiten wirkt die Zusammenarbeit mit dem selbstständig agierenden Blasorchester nahezu banal: Das Blasorchester als sinnstiftende musikalische Gemeinschaft; als Anreiz, ein Instrument zu lernen; als regional einsetzbare kulturelle Institution.
Allen vier in der Seidl-Mühle integrierten Bereichen ist modernste, exzellente Technik zueigen. Das unterstützt natürlich die Übermittlung der Inhalte: sachliche und fachspezifische Bildung, soziale Kompetenz in jeder Altersstufe und nicht zuletzt moderne Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz. Gespeist wird das Ganze auch noch ökologisch sinnvoll vom hauseigenen Wasserkraftwerk im Bach und der Photovoltaik­anlage auf dem Dach – das Kulturzentrum trägt seinen Energieverbrauch komplett selbst.
In der aktuellen Musikschullandschaft ist es selten, dass solche Räumlichkeiten verfügbar sind – dabei steht und fällt damit ein Großteil der (pädagogischen) Möglichkeiten. Für Carsten Reinberg, den Leiter der Musikschule Ismaning, sind in einer lebendigen Musikschule tatsächlich drei Pädagogen notwendig: Zunächst die Lehrerpersönlichkeit mit ihrer Fähigkeit, Neugier und Begeisterung zu schaffen; zweitens der Musiker und Pädagoge mit seinen individuellen Methoden – und schließlich: der Raum als dritter Pädagoge! Ohne diesen sind manche Fähigkeiten unter Umständen nutzlos. Unbestritten, dass nicht jede Gemeinde eine so florierende Wirtschaft hat, dass sie ein 27-Millionen-Euro-Projekt verwirklichen kann. Vielleicht wurden im richtigen Moment die richtigen Fragen gestellt („Was würde der Gemeinde fehlen, wenn es die Musikschule nicht mehr gebe?“), um rechtzeitig reagieren zu können. Aber es müssen auch die richtigen Menschen zugegen sein, Menschen mit Visionen, aus denen dergleichen entstehen kann: eine kulturelle Institution, die synergetisch Wege beschreitet, die es bisher in dieser Form in Deutschland kaum gibt; die Erfolge verzeichnet, sodass die Bibliothek seit Bestehen des neuen Kulturzentrums 1000 Ausleihen mehr im Monat, die VHS 25 Prozent mehr Anmeldungen verbuchen kann… Unnachahmlich? Unbedingt nachzuahmen!

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