Prokofjev, Sergej

Der wandernde Turm

Die Erzählungen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C. Bertelsmann, München 2012
erschienen in: üben & musizieren 4/2012 , Seite 55

Normalerweise können sich Gebäude nicht vom Fleck bewegen. Es braucht schon ein Erdbeben oder die Fantasie der erzählenden Literatur dazu. Wer beispielsweise Carl Zuckmayers Erzählung Die wandernden Hütten kennt, in der sich im Zusammenhang mit einer Familienfehde die Häuser eines ganzes Bergdorfs in Bewegung setzen, dürfte dennoch staunen, wenn sich in Sergej Prokofjevs Erzählung Der wandernde Turm ein so prominentes Bauwerk wie der Eiffelturm in Bewegung setzt. Die Seele des Wissenschaftlers Marcel Vautours hat Besitz vom ihm ergriffen und der Eiffelturm muss sich nun so lange bewegen, wie sie in ihm steckt. Er wandert über Berge und Täler hinweg gen Süden, um den Turm von Babel zu finden…
Nicht nur die musikalischen Arbeiten des 1891 geborenen Komponisten, der so prominente Lib­retti wie Peter und der Wolf und Die Liebe zu den drei Orangen geschrieben hat, stecken voller Fantasie. Als der Konzertgitarrist Lucian Plessner drei von Prokofjevs Texten in der Moskauer Bib­liothek des sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein entdeckte, erkannte er deren Qualität und bemühte sich darum, diese und weitere öffentlich zugänglich zu machen. Erstmals auf Deutsch vorliegend, enthält der Band elf Erzählungen und Fragmente aus den Jahren 1917 bis 1921, die Prokofjev auf Zugfahrten schrieb. Die deutschen Übersetzungen stammen von Plessner und A. Kravtsova und sind ­illustriert mit schönen, an Chagall erinnernden Bildern von Elisabeth Klingenberg.
Es ist eine bunte, spürbar von den ästhetischen und geistigen Strömungen der Zeit, aber auch von der russischen Erzähltradi­tion geprägte Welt, die einem hier entgegentritt, eine Welt, in der unverrückbar Scheinendes in Bewegung gerät oder ein Elefant zu sprechen beginnt (Wissen sie, wann…), eine Welt, in der Raum und Zeit sich selbst zu Wort melden (Ultraviolette Fein­heiten) und ein Ingenieur verrückt zu werden droht über seine Eifersucht, die sich schließlich als reiner Wahn ohne jedes Fundament erweist (Missverständnisse kommen vor).
Mag auch manche der Erzählungen in ihrer Konzeption etwas schematisch wirken, so eröffnet sich mit diesem Band dennoch eine unbekannte Seite des Komponisten und es wäre spannend herauszuarbeiten, in welchem Verhältnis diese Texte zu den musikalischen Arbeiten Prokofjevs stehen. Der Herausgeber interpretiert sie im Nachwort vor allem in biografischem Kontext – eine Lesart, gegen die nichts einzuwenden ist, in der sie sich aber längst nicht erschöpfen. Allein der Vergleich von Das Märchen vom Fliegenpilz mit Lewis Carrolls Alice im Wunderland ­wäre eine eigene Untersuchung wert.
Doch auch ohne derartige philologische Studien kann man sich gut vorstellen, dass Prokofjev, hätte er eine Karriere als Schriftsteller konsequenter verfolgt, es zu ähnlicher Beachtung gebracht hätte wie als Komponist.
Beate Tröger