Rüdiger, Wolfgang
Dialog | Durchlässigkeit | Dienst an Menschen
Plädoyer für eine nicht-elitäre Ausbildung an Musik(hoch)schulen
Die aktuelle weltpolitische Lage betrifft auch die Musik(hoch)schulen. Klimawandel und Kriege, Armut, Migration und antidemokratische Strömungen bilden nicht nur politisch-gesellschaftliche Krisenherde, sondern auch (musik-)kulturelle. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Fragen sozialer Teilhabe/Teilgabe und kultureller Diversität1 in der Musik(hoch)schul-Ausbildung und zielen auf eine Pluralität musikalischer Genres, auf die Verwirklichung kultureller Vielfalt sowie auf freie, kreative Umgangsweisen mit Musik.
Wenn unsere Welt aus den Fugen ist, stellt sich die Frage: Wozu noch üben an Musik(hoch)schulen und Mozart spielen? „Um der Bewahrung unserer Freiheit willen und um die Furcht zu bannen“, ist eine gute Antwort, aber sie reicht nicht aus. Denn es stellen sich weitere dringliche Fragen: Wozu bilden Musik(hoch)schulen aus? Und wen bilden sie aus, für wen und wie, mit welchem Ziel und Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit? Welche Menschen können welche Musik mit welchen Hintergründen und Handlungsmöglichkeiten erlernen? Angesichts der multiplen Krisen unserer Gegenwart steht nichts Geringeres an als eine radikale Neuausrichtung der Musikausbildung in Beziehung zur Welt, in der wir gemeinsam leben und überleben wollen.2
Ungleichheit in der Zugänglichkeit
Betrachtet man unter dem Aspekt der Relevanz von Musik(hoch)schulen in unserer Einwanderungsgesellschaft aktuelle sozial-strukturelle Problemfelder, so fällt zuvörderst der Bericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands 2024 ins Auge, demzufolge „16,8 Prozent der Menschen in Deutschland […] für das Jahr 2022 als einkommensarm bezeichnet werden [müssen]“, vor allem Erwerbslose, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen und Migrationshintergrund sowie mehr als 20 Prozent Kinder.3
Wie eine Antwort auf den Armutsbericht vor seiner Veröffentlichung mutet die Entschließung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) vom 14. November 2023 an, die Hochschulen über ihren Bildungs-, Forschungs- und Innovationsauftrag hinaus als kulturelle Institutionen mit „besonderen Potenzialen“ positioniert. Zu ihrer „vierten Mission“ zählt die Entwicklung neuer Perspektiven und kultureller Praktiken, die „die Herstellung sozialer Kohäsion, die Sicherung von Frieden, die Bekämpfung von Armut und der ökologischen Krise“ befördern helfen und verantwortliches Handeln ermöglichen.4
In diesem Maße gesellschaftlich und politisch zu denken und zu handeln, geschweige denn mit Musik „Interventionen im politischen Raum“ zu vollziehen, wie es weiter heißt, sind Musik(hoch)schulen weit entfernt. Bei allen existierenden Ansätzen einer sozialmusikalischen Erweiterung ihrer Angebote (z. B. durch die der Elementaren Musikpädagogik nahestehende Community Music) bilden sie ihrem Zuschnitt nach – im Gegensatz zu ihren inhaltlichen und personellen Potenzialen – „bis heute europaweit die exklusivsten tertiären Bildungsorte: Noch nicht einmal für den Zugang zur Universität braucht es eine so umfangreiche Vorinvestition […]. Dabei handelt es sich um Institutionen, die für sich in Anspruch nehmen, ihre Studierenden ausschließlich nach ‚Begabung‘ auszuwählen.“5
Was aber bedeutet hier „Begabung“, nach der an Musikhochschulen ausgewählt wird? Begabung wofür? Sicherlich (noch) nicht für musikalische Kommunikationsfähigkeit, für interkulturelles Gruppenmusizieren in sozialen Kontexten, für Instrumente wie Saz, Sitar, Oud, Baglama. Entsprechen Auswahl und Ausbildung an Musikhochschulen also der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den im Papier der Hochschulrektorenkonferenz formulierten Empfehlungen?
1 vgl. Gerards, Marion: „Kulturelle Teilhabe und Teilgabe als Herausforderungen und Potenziale Sozialer Kulturarbeit in der Migrationsgesellschaft“, in: Spetsmann-Kunkel, Martin (Hg.): Kultur interdisziplinar – eine Kategorie in der Diskussion, Opladen 2019, S. 83-116, bes. S. 90 ff., https://doi.org/10.2307/j.ctvmd8460.8 (Stand: 23.8.2024).
2 Seit Erscheinen der Publikation Vorzeichenwechsel, die eine gesellschaftliche und politische Neupositionierung der Musikpädagogik einläutet, hat sich die Weltlage noch einmal erheblich verschärft; vgl. Berg, Ivo I./ Lindmaier, Hannah/Röbke, Peter (Hg.): Vorzeichenwechsel. Gesellschaftspolitische Dimensionen von Musikpädagogik heute, Münster 2020. Zur Notwendigkeit des musikpädagogischen Diversitätsdiskurses – mit kritischer Diskussion von Transkulturalität und Diversität – und seiner ethnomusikologischen Fundierung vgl. den älteren Beitrag von Clausen, Bernd: „Responses to Diversity: Musikunterricht und -vermittlung im Spannungsfeld globaler und lokaler Veränderungen“, in: Knigge, Jens/Mautner-Obst, Hendrikje (Hg.): Responses to Diversity. Musikunterricht und -vermittlung im Spannungsfeld globaler und lokaler Veränderungen, Stuttgart 2013, S. 8-40.
3 Pieper, Jonas/Schneider Ulrich: Armut in der Inflation. Paritätischer Armutsbericht 2024, hg. vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband Gesamtverband e. V., Berlin 2024, S. 3; www.der-paritaetische.de/alle-meldungen/paritaetischer-armutsbericht-2024 (Stand: 8.1.2025).
4 HRK Hochschulrektorenkonferenz: Die kulturelle Dimension der Hochschulen. Entschließung der 37. Mitgliederversammlung der HRK vom 14.11.2023, www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/die-kulturelle-dimension-der-hochschulen (Stand: 7.1.2025); vgl. Schmitt-Weidmann, Karolin: „Raus aus dem Elfenbeinturm! Gestaltung von Kultur und Gesellschaft als Aufgabenfeld und Bildungsmission von Musikhochschulen“, in: üben & musizieren.research, 3, 2023, S. 1-22, www.uebenundmusizieren.de/artikel/schmitt-weidmann (Stand: 25.8.2024).
5 Mörsch, Carmen: „Arbeiten in Spannungsverhältnissen 1: Geschichte der Kulturvermittlung zwischen Emanzipation und Disziplinierung“, in: Zeit für Vermittlung. Eine online Publikation zur Kulturvermittlung, hg. vom Institute for Art Education der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), im Auftrag von Pro Helvetia, als Resultat der Begleitforschung des „Programms Kulturvermittlung“ (2009–2012), S. 35, www.kultur-vermittlung.ch/zeit-fuer-vermittlung (Stand: 7.1.2025).
Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2025.