de Vries, Sandra

Die „Anderen“ sind wir!

Kulturarbeit aus ethnologischer Perspektive

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2019 , Seite 06

Bei dem Begriff Kultur denken viele Menschen als erstes an Theater und Musik oder aber an biologische Prozesse aus der Natur, Medizin und Nahrungs­mittelindustrie. Aktuell rückt jedoch eine weitere Bedeutung von Kultur in den Fokus und dominiert den Diskurs: Kultur als soziales Gesellschaftsphänomen.

Die Auseinandersetzung mit dem Begriff Kul­tur sowie die Frage nach der kulturellen Identität sind in Deutschland in den vergangenen Jahren wieder populär geworden. Neuerdings stellt sich für viele Menschen die Frage nach der eigenen kulturellen Identität und nach der Verortung dieser Identität in einem Land. Ein kulturelles Leitbild wird gefordert, das Halt und Orientierung verspricht, ein „Heimatminister“ wird ernannt, der den angestammten Platz und die Traditionen sichern soll, um einer vermeintlichen „Überfremdung“ entgegenzuwirken. Gerade die fluchtbezogene Zuwanderung der vergangenen Jahre hat das Thema wiederbelebt. „Deutsch sein“ ist gefragt, Stellung zu beziehen und Flagge zu zeigen. Schon die gewählte Ausdrucksweise macht hellhörig. Der Bedarf nach dem „Dorf“, den guten alten Zeiten und nach der heimatlichen „Scholle“ wächst innerhalb der Gesellschaft. Was aber bedeutet Kultur und kulturelle Identität in diesem Zusammenhang?
Nie zuvor waren Informationsaustausch und Kontakt zwischen Menschen auf diesem Globus größer und vielfältiger als heute. Durch die zunehmende Mobilität, vor allem aber durch die digitale Vernetzung können wir überall in der Welt an Ereignissen teilhaben, neue Welten entdecken. Ängste vor dem „Fremden“ stehen dabei einer Faszination für das „Fremde“ gegenüber.
Viele multikulturelle Ausdrucksformen haben fragmentarisch längst Einzug in den Alltag gehalten, zum Beispiel Ethnofood, Ethnolook, Ethnomusik oder Ethnokunst. Ein besseres Verständnis für die Komplexität der Welt wurde dadurch nicht geschaffen! Vielmehr erleben wir, wie Menschen auf ihre eigene Kultur beharren, sie gar schützen wollen vor Übergriffen und Veränderung. Kultur wird zunehmend als etwas Statisches definiert, abgrenzend anderen gegenüber: „wir“ und „die“. Dabei hat es Wandel und Einflussnahme von außen im menschlichen Leben immer gegeben.

Die Wissenschaft des „kulturell Fremden“

Spannende Zeiten für eine Wissenschaft, die sich traditionell mit dem „kulturell Fremden“ beschäftigt: die Ethnologie. Historisch erforschten und verglichen EthnologInnen ethnische Gruppen und indigene Völker, um Erkenntnisse über die Vielfalt der mensch­lichen Lebenswelten zusammenzutragen. Heute dokumentieren sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die zeigen, wie Menschen ihren Alltag bewältigen, welche Sichtweisen sie einnehmen und welche Bedürfnisse sie formulieren. Um den Begriff des kulturell Fremden ethnologisch einordnen zu können, bedarf es eines kurzen Blicks auf die Geschichte des Fachs.
Die Geschichte der Ethnologie beginnt mit den Entdeckern der Antike, die im Auftrag von Politik, Wissenschaft, Religion und Wirtschaft unterwegs waren, um Neues zu finden. Nicht alles, was aufgezeichnet und gesammelt wurde, geschah aus menschenfreundlichen Gründen. Vielmehr waren es oft machtpolitische Motive, die zu solchen Expeditionen führten. Als Wissenschaft existierte die Ethnologie zu dieser Zeit noch nicht. Dennoch gilt schon Herodot von Halikarnassos im fünften Jahrhundert vor Christus als Pionier der ethnologischen Arbeit, da er empirische Daten über Völker zusammentrug und sie mit denen seiner eigenen Gesellschaft verglich.
Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts wird Ethnologie als eigenständiges Fach an den Universitäten gelehrt und bezeichnet sich als Völkerkunde, zuerst für außereuropäische, oftmals schriftlose Völker. Später erweitert sich ihr Fachgebiet auf alle Bereiche des kulturellen menschlichen Lebens. Als methodische Grundlage ihrer Disziplin definieren EthnologInnen die teilnehmende Beobachtung, bei der die ForscherInnen vor Ort in den Gesellschaften leben und am Alltag partizipieren. Offiziell eingeführt wurde diese zentrale Methode von dem Sozialanthropologen Bronisl´aw Malinowski (1884-1942), der damit den Standard für die heutige Praxis setzte. Neben der teilnehmenden Beobachtung nehmen die Ethnografie (Beschreibung der „Völker“ bzw. der kulturellen Teilbereiche) und der Kulturvergleich eine zentrale methodische Bedeutung ein. Dabei unterliegt die Arbeit einem holistischen (ganzheitlichen) Ansatz, der davon ausgeht, dass alles mit allem zusammenhängt und ein Gesamtbild ergibt. EthnologInnen versuchen hierbei, eine emische Sichtweise (von innen) einzunehmen. Diese Perspektive ermöglicht es ihnen, ein besseres Verständnis des kulturell Fremden zu erlangen.
Durch ihre methodische Herangehensweise erhebt die Ethnologie den Anspruch, eine interdisziplinäre Grundwissenschaft zu sein, da sie die Möglichkeit schafft, Gesellschaften in ihrer kulturellen Vielfalt weitreichend darzustellen und zu vergleichen. Dieser Ansatz bringt Vorteile für die kulturelle Arbeit im eigenen Land, da weltweit beispielhaft zu den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Themen gearbeitet werden kann.
Die deutsche Bezeichnung Völkerkunde, wie sie historisch genutzt wurde, wird heute selten verwendet, da sich die Definition des Begriffs „Volk“ verändert hat und nicht mehr ­repräsentativ für das Arbeitsverständnis und -feld des Fachs ist.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2019.