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Möller, Hartmut / Walter Samsel

Die Last des Perfektionismus

Wie das Streben nach Perfektion zum Scheitern führen kann

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2015 , Seite 06

Im Artikel wird nicht der Anspruch erhoben, das Thema Perfektionismus vollständig zu erfassen und zu erklären. Vielmehr ist es das Ziel, Verhaltensmuster des Perfektionismus, die mit großen emotionalen und physischen Belastungen einhergehen, an Fallbeispielen aus der Praxis darzustellen und Lösungswege aufzuzeigen.

Perfektion und Perfektionismus – beide Begriffe klingen oberflächlich betrachtet recht ähnlich und sind doch grundverschieden. Beide spielen in der heutigen Berufswelt eine wichtige Rolle. Der einfachere Begriff von beiden – zumindest auf der Ebene der Erklärung – ist der Begriff der Perfektion. Man kann auch sagen Vollkommenheit oder Vollendung. Es handelt sich um eine ­Zustandsbezeichnung für etwas, das sich nicht (mehr) ­verbessern lässt. Viel schwieriger ist es dagegen, den ­Begriff Perfektionismus zu greifen. Eine allgemein gültige und wissenschaftlich anerkannte Definition gibt es nicht. Einigkeit besteht allerdings darüber, dass Perfektionismus als ein übertriebenes Streben nach Perfektion und Zwang zur Fehlervermeidung im menschlichen Denken und Handeln verstanden werden kann.
Perfektionismus, so scheint es, ist ein in weiten Teilen der gesellschaftlichen Realität anzutreffendes Problem. Insbesondere bei MusikerInnen können wir beobachten, wie der gesamte Alltag durchzogen ist von der Erwartung, keine Fehler zu machen. MusikerInnen meinen, in allem, was sie tun, perfekt sein zu müssen. Sie sind ständig beunruhigt, eigene Erwartungen an sich selbst nicht erfüllen zu können.
Die Forscher Gordon Flett und Paul Hewitt unterscheiden drei Faktoren, die für den Perfektionismus charakteristisch sind:1
– ein auf das eigene Ich bezogener Perfektionismus: ein von innen kommender, aus unterschiedlichen Quellen gespeister Wunsch, perfekt zu sein;
– ein auf andere bezogener Perfektionismus: Tendenz, von anderen Perfektion zu erwarten, etwa von Freunden, Familie und Kollegen;
– ein sozial verordneter Perfektionismus: Überzeugung, nur gemocht zu werden, wenn man perfekt ist.

Anzeichen für Perfektionismus bei Musikern

MusikerInnen sind von der Problematik des Perfektionismus vermutlich besonders betroffen, obwohl ein wissenschaftlicher Vergleich mit anderen Berufsgruppen fehlt. Perfektionismus prägt unseren Zeitgeist, liegt unseren Wertvorstellungen zugrunde, dominiert unser Denken. Fast niemand kann sich ihm ganz entziehen. Viele MusikerInnen suchen mittlerweile Hilfe bei ÄrztInnen oder PsychologInnen, um sich von festgefahrenen Denkmustern, Verhaltensweisen und den Konsequenzen chronischer Überforderung lösen zu können.

Beispiel: die junge Flötistin
Eine junge Flötistin, „Jugend musiziert“-Preisträgerin, lädt ihren ärztlichen Ratgeber zu einem Solo-Konzert ein. Dieser gratuliert ihr nach dem Konzert zu ihrer reifen Leistung. Die junge Frau hingegen entschuldigt sich für ihr Spiel und sagt: „Wenn ich gewusst hätte, dass das Konzert so schlecht wird, hätte ich Sie lieber nicht dazu eingeladen.“
Unter MusikerInnen, wie auch bei anderen Berufsgruppen, finden wir Menschen, die das Beste aus sich herausholen und eine Perfektion erreichen wollen. Es ist ein Streben, das Menschen auszeichnet und von hoher Bedeutung für den eigenen und den gesellschaftlichen Fortschritt ist. Aber selbst, wenn sie das „Beste“ schaffen, fühlen sie sich oft nicht glücklich oder nehmen ihren Erfolg nicht als solchen wahr. Solche Menschen sind perfektionistisch. Raphael Bonelli, ein Wiener Psychiater und Wissenschaftler, schreibt dazu: „Perfektionismus ist ein Vermeidungsverhalten: Wer perfekt arbeitet, kann weder getadelt noch gekündigt werden […] Er giert nach Sicherheit […] Häufig ist Perfektionismus von einer irrationalen Angst vor Ablehnung begleitet, der Angst nicht gut genug zu sein, den Ansprüchen nicht zu genügen.“ Bonelli bezeichnet einen Perfektionisten als einen unsicheren Menschen, der sich ständig im Spiegel betrachtet, um eine Maske aufzusetzen, hinter der er sich versteckt. „Dem Perfektionismus liegt eine unfreie, neurotische Angst vor der eigenen Fehlerhaftigkeit zugrunde, die die Seele erstarren lässt wie die Maus vor der Schlange.“2

1 Gordon L. Flett/Paul L. Hewitt: Perfectionism. Theory, research, and treatment, Washington 2002, S. 5-31.
2 Raphael M. Bonelli: Perfektionismus. Wenn das Soll zum Muss wird, München 2014, S. 12 f.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2015.