Müller, Gudrun

Die Lehrerin als Mama

Zwischenmenschliches Zusammenspiel im Unterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2011 , Seite 52

Ein neuer Schüler mustert seine Lehrerin, nachdem er sie nach ihrem Vornamen gefragt hat, mit aggressiven, provozierenden Blicken und sagt: “Du hast Schuhe wie meine Mutter, Haare wie meine Mutter und jetzt heißt du auch noch wie meine Mutter.” Die Dozentin reagiert mit einer klaren Abgrenzung auf die verbal formulierten Übertragungsgefühle und betont, dass sie nicht seine Mutter sei. Doch was ist denn da geschehen?

Jeder Mensch macht die Erfahrung, dass ein Gespräch, ein kurzfristiges Zusammentreffen mit anderen Menschen oder auch ein langjähriges gemeinsames Leben großen Schwan­kungen unterliegt. So ist man manchmal von einem kommunikativen Zusammenspiel nahezu beglückt, während einen andererseits zwischenmenschliche Konflikte fast zerreißen können: Handeln und Erleben können durch interaktive Phänomene enorm beeinflusst werden. Auf der rationalen Ebene überlegt man als PädagogIn häufig, warum die Kommunikation mit einigen SchülerInnen gelingt, mit anderen dagegen beinahe entgleist. Verschiedene Mechanismen können die Harmonie stören.

Was ist eine ­Übertragung?

Ur-Erfahrungen im Familienkreis sind die elementare Grundlage für neue Beziehungen. Trifft man in einer unbekannten Situation auf fremde Personen, bewirkt dies zumeist Verunsicherung. Um diesem unangenehmen Gefühl entgegenzuwirken, sucht der betroffene Mensch bei seinem noch unbekannten Gegenüber ihm bekannte Merkmale. Diese Suche erstreckt sich von Persönlichkeitsmerkmalen über Kleidung bis zum Namen. Den „Suchbewegungen“ sind keine Grenzen gesetzt – wesentliches Ziel ist, dass die Verunsicherung verschwindet.
Evolutionsgeschichtlich ist dieses Verhalten äußerst sinnvoll. Denkt man an den Urmenschen zurück (dessen Verhaltensmuster bei uns noch wesentlich stärker vorhanden sind, als gemeinhin angenommen wird), konnte diese Handlungsweise lebensrettend sein: Wenn nicht blitzschnell erkannt wurde, ob einem das Gegenüber freundlich oder feindlich gesonnen ist, konnte dies den Tod bedeuten. Auch wenn es heutzutage nicht um derart tiefe Dimensionen geht, sind diese Vorgänge des blitzartigen Einordnens immer noch vorhanden und bis zu einem gewissen Grad auch richtig. Wartete man jedes Mal die lange Zeitspanne ab, bis man einen Menschen in seiner ihm wesenseigenen, individuellen Persönlichkeit kennen gelernt hat, wären oberflächliche zwischenmenschliche Kontakte unmöglich. Die meisten der Zusammentreffen finden auf dieser Basis statt. Es lassen sich nicht ausschließlich intensive Be­ziehungen führen, da hier komplexe Beziehungsmuster aufgebaut, modifiziert oder verstärkt werden müssen. Die Unterrichts­situation führt dagegen immer zu intensiveren Kontakten aufgrund des regelmäßigen Wochenrhythmus, einer gewissen Dauerhaftigkeit etc.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2011.