Dilg, Jenny Marielle / Lilli Williams / Eden Mengesteab
Die Muschel
Identitätsfindung in einer Streicherklasse gegen Armut und Diskriminierung
In der Streicherklasse einer Berliner Grundschule kommen geflüchtete Kinder mit Kindern der Regelklassen in Kontakt und erhalten neue Angebote und Orientierungsmöglichkeiten für die schwierige Suche nach der eigenen Identität.
Als 2015 viele geflüchtete Menschen und somit auch viele schulpflichtige Kinder nach Berlin kamen, wollte ich als Musikpädagogin und Bratschenlehrerin einen Beitrag dazu leisten, diese Menschen aufzunehmen und die Situation an den Schulen zu bewältigen. Mit Unterstützung der studentischen Initiative Common Ground,1 die an der Universität der Künste gemeinsam mit Geflüchteten künstlerische Projekte organisiert, und von Oranna Sperber konnten wir – nach einigen organisatorischen Vorbereitungen – an der Nehringschule in Berlin gemeinsam mit einer Gruppe Studierender eine Streicherklasse für geflüchtete Kinder ins Leben rufen. Zusammen mit David Lima, Johanna Madden, Thirza Marx und Leonor Rodrigues von der UdK Berlin unterrichteten wir zunächst eine Gruppe aus der Willkommensklasse der Nehringschule Berlin mit zehn Kindern, später kam eine weitere Klasse hinzu.
„Jeder kann über sich hinauswachsen und etwas erreichen, wenn er es mit Hingabe und Leidenschaft tut.“ (Nelson Mandela)
Das Projekt „Musik von allen Saiten“ sollte es geflüchteten Kindern so einfach wie möglich machen, ein Streichinstrument zu lernen und mit Kindern aus der Regelklasse in Kontakt zu kommen. Wichtig war uns von Beginn an, die Streicherklasse kostenlos anzubieten. Doch gestaltete sich die Finanzierung der Instrumente zunächst schwierig. Wir starteten daher mit Pappgeigen. Die Kinder waren dennoch immer sehr motiviert und begeistert. Als die Geigen aus Holz endlich da waren, hatten wir das Glück, einen Auftritt in der Orangerie im Schloss Charlottenburg realisieren zu können. Wir spielten ein Arrangement von Peter und der Wolf: ein schöner Auftakt unseres Projekts.
Das Projekt wuchs, wir unterrichteten nun zwei Klassen und es kamen mehr Kinder aus den Regelklassen dazu. Die Kinder waren immer begeistert, doch es gab auch Tränen und Dramen. Alle Kinder aus unserer Klasse haben ihre Bürden zu tragen und es kommen unterschiedliche Schwierigkeiten und Konflikte zusammen. Unsere Klasse mag auf Besucher zuweilen etwas chaotisch wirken. Und in der letzten Stunde kamen zehn neue Kinder dazu! Jetzt brauchen wir wieder dringend Instrumente…
Während der Arbeit mit der Streicherklasse wurde mir immer bewusster, dass der Unterricht mehr Implikationen hat als eine rein streichermethodische Herangehensweise. Deswegen war es mir wichtig, meine Erfahrungen als Lehrerin der Streicherklasse mit zwei außenstehenden Expertinnen zu besprechen, die im psychosozialen Bereich tätig sind und forschen. Mit Lilli Williams und Eden Mengesteab diskutierte ich zwei Aspekte, die implizit in der Streicherklasse vorhanden sind: Armut und Diskriminierung.
Musische Bildung als Ausweg aus der Armut
Die gesellschaftliche Wirklichkeit, der ich mit diesem Projekt etwas entgegensetzen wollte, drängte sich dennoch auf: Als wir uns entschieden, die Eltern um einen freiwilligen einmaligen Beitrag von 20 Euro zu bitten, um ein bisschen Geld für Anschaffungen (Hefter, Saiten usw.) zu haben, mussten wir erkennen, dass diese Summe für viele Eltern (auch für jene aus der Regelklasse) eine zu große Ausgabe darstellte. Wir bekamen zum Beispiel einen Brief mit einer langen Erklärung, warum das Geld von Hartz IV für diese Ausgabe nicht reiche.2 Zum anderen schien mir ein Zusammenhang zwischen dem Einkommen der Eltern und den motorischen Fähigkeiten der Kinder zu bestehen. Diese Erfahrung stellt den herkömmlichen Begabungsbegriff in Frage und erfordert, auch andere Aspekte zu beachten, die möglicherweise einschränkend auf die Leistung und Aufnahmefähigkeit wirken können.
Nach dem Vorbild von El Sistema aus Venezuela möchte ich im kleinen Rahmen mit unserer Streicherklasse für die Kinder Wege aus der Armut auftun. Armut besteht nicht nur aus materiellen Einschränkungen, sondern bringt auch das Problem der restriktiven Handlungsfähigkeit mit sich. Auch sollte das Phänomen der gläsernen Decke aus der Genderforschung nicht unerwähnt bleiben. Der Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit kommt aus der Kritischen Psychologie und beschreibt den Zustand, dass Menschen sich mit (sozioökonomischen) Situationen abfinden, obwohl diese für sie mühsam sind.3
Als Pädagogin erwächst daraus eine Arbeit an der Handlungsfähigkeit der Kinder, indem man ihnen Optionen und Möglichkeiten eröffnet, die sie bisher nicht in Betracht gezogen haben. Finden die Eltern zum Beispiel keine Arbeit und sind deswegen verzweifelt, kann es passieren, dass die Kinder dieses Gefühl der Ohnmacht als selbstverständlich und richtig wahrnehmen. Das heißt, wenn etwas nicht klappt, wird es gleich aufgegeben und nicht weiterverfolgt. Warum auch? Es wird sowieso nicht klappen. Hier können wir als PädagogInnen ansetzen: „Doch, es kann klappen! Siehst du, es klappt doch!“ Und plötzlich schaffen auch sogenannte schwierige Kinder eine Aufgabe.
Die gläserne Decke ist ein Begriff aus der Genderforschung, der die Schwierigkeiten von Frauen beschreibt, in Führungspositionen aufzusteigen. Es handelt sich hierbei um unsichtbare Barrieren, die Frauen daran hindern, sich in einem Milieu zu bewegen, das förderlich für einen Aufstieg wäre.4 Übertragen auf unsere Streicherklasse können wir beobachten, dass die Kinder, die vorher in Turnhallen schliefen und jetzt zum Teil noch immer zu fünft in einem Raum im Flüchtlingsheim leben, nicht mit den Kindern spielen, die im Altbau im gut situierten Bezirk Charlottenburg leben. Dies ist nicht auf mangelnde Sympathie zurückzuführen, sondern lediglich auf die Tatsache, dass die einen und die anderen Kinder durch eine unsichtbare Wand getrennt sind. Sie ziehen einfach nicht in Erwägung, sich anzufreunden.
Ein Kind aus einem Elternhaus mit gesicherter sozioökonomischer Situation und womöglich akademischem Hintergrund, das wöchentlich zum Musikunterricht in die Musikschule gefahren wird und bei dem die Eltern auf regelmäßiges Üben bestehen, weiß: „Ich soll ein Musikinstrument spielen.“ Aber es hat auch günstigere Voraussetzungen, um zu wissen: „Das steht mir zu, ich kann dieses Instrument lernen.“
1 www.udk-berlin.de/universitaet/studierendenschaft/common-ground (Stand: 14.8.2018).
2 vgl. www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wie-viel-geld-bekommt-ein-hartz-iv-empfaenger-1.3905657 (Stand: 14.8.2018).
3 vgl. Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie, Campus, Frankfurt am Main 1983, S. 325 ff.
4 vgl. Katrin Schulz: Frauen in Führungspositionen. Die „gläserne Decke“ als Ursache einer persistenten vertikalen Segregation des Arbeitsmarktes, wvb, Berlin 2013.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2018.