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Krämer, Laura

Die musikalische Vorratskammer

Harmonische Zusammenhänge verstehen – auch für Melodieinstrumente

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 3/2020 , Seite 26

Ein grundlegendes Verständnis von Harmonik und das Verändern und Neuerfinden von Musik sind keine Theorie, sie gehören zur Musikpraxis. Idealerweise sind sie von Anfang an Bestandteil des Instrumentalunterrichts. Im Folgenden werden einige Übungen zum Thema Dominante und Tonika ­vorgestellt. Die Arbeit mit Solmisationssilben kann helfen, die Orientierung im Tonraum zu erleichtern.

Es ist ein hartnäckiges Vorurteil, dass das Klavier sich besser als ein Melodieinstrument eigne, um musikalische, insbesondere harmonische Strukturen zu erfassen. Dabei durchdringen sich Melodie und Harmonie in tonaler Musik so vollständig, dass das eine immer im anderen versteckt ist: Harmoniefolgen implizieren Melodien; Melodien implizieren Harmonien. Im pädagogischen Alltag erlebt man allerdings immer wieder, dass Menschen, die seit Jahren tonale Musik spielen (durchaus auch auf dem Klavier), diese Zusammenhänge noch nicht bemerkt haben. Offenbar teilen sich die grundlegenden Strukturen der Tonalität nicht automatisch im Ins­t­rumentalunterricht mit, selbst dann nicht, wenn instrumentaltechnisch bereits ein gutes Niveau erreicht ist.
Der Theorieunterricht wiederum setzt meist erst (zu) spät – wenn gegen Ende der Schulzeit ein Musikstudium angestrebt wird – oder gar nicht ein. Er ist zudem oft zu wenig mit der Praxis verknüpft, sodass „Theorie“ vielen Musikerinnen und Musikern fremd bleibt. Wenn grundlegende musikalische Strukturen und der kreative Umgang mit ihnen im Ins­trumentalunterricht zu kurz kommen, entsteht eine Diskrepanz zwischen instrumentaltechnischem Können und der Fähigkeit, selbstständig und kreativ mit Musik umzugehen und über sie zu sprechen.
Die folgenden Übungen streben das Verinnerlichen harmonischer Beziehungen durch Wiederholung, Transposition, Vor- und Nachspiel, inneres Hören und Variieren an. Auf diese Weise fließen Spielen, Lesen, Hören und Verstehen ineinander, die Hand hört, das Ohr greift und der ganze Mensch versteht. Die harmonischen Grundzusammenhänge werden bildlich in einem Einmachglas haltbar gemacht und stehen nach getaner Arbeit als Vorrat zur Verfügung, ohne dass erneutes Nachdenken erforderlich ist. So kann sich musikalische Kreativität entfalten. Sie kommt nicht aus dem Nichts, sondern basiert auf Verstehen.

Tenorklausel und Sopranklausel

Die Melodien der Sopran-, Tenor- und Bassklausel bilden die Grundlage der Dominante-Tonika-Kadenz und können in fast allen tonalen Stücken wiedergefunden werden. Für diese drei melodischen Formeln genügen die Solmisationssilben ti, do, re und so. Um die zugehörigen Dreiklänge zu bilden, wird dann noch die Tonika-Terz mi benötigt.
Alles hat ein Ende, auch ein Musikstück. Dieses Ende wird auch ohne formtheoretisches Vorwissen leicht erkannt. Dabei gibt es nicht nur den letztgültigen Schluss, nach dem die Musik verstummt, sondern auch Binnenzäsuren, die Abschnitte kennzeichnen. Diese Einschnitte können unterschiedlich stark sein, von „unüberhörbar“ bis „kaum wahrzunehmen“. In tonaler Musik haben sich für Einschnitte und Endigungsprozesse bestimmte Gestaltungsweisen etabliert, die immer wieder ähnlich zu finden sind. Solche Kadenzen sind uns als Abfolge bestimmter Harmonien bekannt, vor allem Dominante – Tonika oder V. Stufe – I. Stufe. Sie haben sich aus melodischen Bewegungen entwickelt, die für das Kadenzieren in harmonisch-tonaler Musik von zentraler Bedeutung sind. Durch diese Melodiefloskeln können Kadenzen auch ohne harmonische Analyse mit Melodieinstrumenten gespielt, geübt, angewendet und verstanden werden.
Die Kadenzmelodien heißen nach den Chorstimmen Tenor-, Sopran-, Bass-, Altklausel. Am ältesten ist die Tenorklausel: der Schritt von oben in den Grundton (re-do). Er ahmt in Textvertonungen das Sinken der Sprechstimme zum Satzende hin nach, das bereits in der antiken Rhetorik „Kadenz“ heißt.

Solmisation Tenorklausel: Gehörbildung, Audiation
– Singen Sie mit Ihrer Schülerin do-re-do mit Handzeichen (Vorsingen – Nachsingen). Verstehen Sie das erste do als Auftakt, singen Sie das re länger.
– Lassen Sie Ihre Schülerin die Handzeichen zeigen. Sie bestimmt, wie lang die Töne sind. Tauschen Sie die Rollen. Überraschen Sie Ihre Schülerin mit Tonwiederholungen.
– Zeigen Sie nur Handzeichen, Ihre Schülerin stellt sich die Töne vor.
– Wechseln Sie die Tonhöhe. Singen Sie leise ein neues do an, dann singen Sie gemeinsam die Formel. Lassen Sie Ihre Schülerin neue do-Tonhöhen fürs gemeinsame Singen angeben.
– Singen und zeigen Sie ein neues do und zeigen Sie die restlichen Töne stumm. Stellen Sie sich die Töne vor dem inneren Ohr vor.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2020.