Rieß, Hans-Joachim

Die öffentliche Musikschule in Deutschland im Begründungs­zusammenhang ­kultureller Bildung

Eine ideengeschichtliche Untersuchung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bosse, Kassel 2019
erschienen in: üben & musizieren 4/2019 , Seite 54

Aus der Öffentlichkeit sind die rund 1000 öffentlichen Musikschulen nicht wegzudenken. End­los sind die begeisterten Statements der Politiker aller politischen Couleurs und Ressorts: „Wer musiziert, nimmt keine Knarre in die Hand“ sei stellvertretend genannt. Ebenso endlos sind die Diskussionen um Finanzierung, Tarifverträge und jährlich wiederkehrende Spar-Runden. Wohltuend ist es, einen Moment innezuhalten und der Idee von Musikschule und kultureller Bildung inhaltlich und historisch auf den Grund zu gehen. Gleich zwei Dissertationen widmen sich dieser Aufgabe: Friedbert Holz forscht zum Bildungsauftrag von Musikschulen und blickt dabei auf die Stuttgarter Musikschule. Hans-Joachim Rieß liefert eine ideengeschichtliche Untersuchung zur öffentlichen Musikschule im Begründungs­zusammenhang kultureller Bildung.
Beide Autoren kommen aus der Praxis: Holz als stellvertretender Musikschulleiter, Rieß als ehemaliger Musikschulleiter und jet­ziger Geschäftsführer des hessischen VdM. Beide wissen aus täglicher Praxis, wie Musikschule funktioniert, beide kennen die Sorgen und Probleme. Sie lenken den Blick auf historische und philosophische Zusammenhänge, werden sehr konkret und liefern reichliche Anregungen für die gegenwärtige und künftige Musikschularbeit.
Rieß fokussiert auf die für die Musikschulentwicklung wesentlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts: Jugendmusikbewegung, Reformpädagogik und deren Einmündung in die Kestenbergreform, die die Professionalisierung und staatliche Anerkennung überhaupt erst auf den Weg brachte, sowie die Musische Bildung Georg Götschs, der wesentlichen Anteil an der Umsetzung dieser Reform hatte. Im Nationalsozialismus wurde die jugendbewegte Musische Bildung dann rasch gleichgeschaltet und pervertiert zur „notwendigen Ergänzung der Wehrerziehung“. Nach 1945 ging es im Grunde mit der deutschen Musikpädagogik weiter wie zuvor. Kernaussagen aus den 1920er bis 1950er Jahren sind dabei völlig austauschbar: „Das öffent­liche Konzertleben hat den Bezug zum Volk verloren“ heißt es hier, „Auf dass Musik und Volk wieder zueinanderfinden“ heißt es dann bei Jöde, „das Deutsche Musikvolk ist bedroht“ woanders.
Erst durch den Sputnikschock 1957, das technologische Überholt-Werden des Westens durch die Sowjetunion, trat in der Bundesrepublik der Gedanke einer leistungsorientierten Musikschu­le mit internationaler Konkurrenzfähigkeit ins Bewusstsein. Und erst durch Adorno rückte das Kunstwerk, nicht das Musizieren in den Mittelpunkt der Mu­sikpädagogik: Neues Ziel wurde nun in Schule und Musikschule, Kinder als Musiker zu respektieren und zur Kunstaneignung zu emanzipieren.
Aus all diesen Strömungen entwickelten sich die Strukturpläne des neu gegründeten VdM und seiner stark wachsenden Zahl an Mitgliedsschulen. Die Elementare Musik, Ensembles und Stu­dienvorbereitende Abteilungen wurden aufgebaut, Musikschulen wurden zu Konkurrenten des privaten Unterrichts und der Konservatorien.
Heute stehen die öffentlichen Musikschulen als gefestigte Ins­titutionen da, die das im Grundgesetz erklärte Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung und garantierte Gleichheit aller Menschen vehement mit dem Anspruch auf finanzielle Förderung reklamieren. Rieß schließt mit wichtigen Folgerungen in Thesenform und weist auf die zukunftsweisende Chance der heutigen Heterogenität der Schülerschaft hin. Sein Schlüsselsatz zur inklusiven Musikschule von heute stammt aus dem aktuellen Strukturplan des VdM: Musizieren macht stark für ein gelingendes Leben.
Holz’ bildungstheoretische Untersuchung fußt zu einem guten Teil auf Wilhelm von Humboldt, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts theoriebildend wirkte und gleichzeitig Reformen des öffentlichen Bildungswesens anstieß. Angesichts politischer Um­brüche und aufkommender Industrialisierung wuchs zu seiner Zeit die Bedeutsamkeit von Bildung, verstärkt durch das Anwachsen eines bürgerlichen Musiklebens, das wiederum gute mu­sikalische Bildungsstätten benötigte.
Die für die heutige Musikschullandschaft so prägenden Strömungen und Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert werden von Holz nur gestreift. Er begründet dies damit, dass sie fast völlig aus der Praxis und ohne bildungstheoretische Begründung entstanden sind. Während das neuhumanistische Bildungskonzept des frühen 19. Jahrhunderts von der Theorie ausgehend in die Praxis wirkte, kämen die Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts aus dem (spätromantischen) Unbehagen an bürgerlicher Kultur und Bildung; ihr Fokus lag auf dem gesellschaft­lichen Auftrag. Holz spricht von einem „Blindfleck humanistischer Bildungstradition“.
Auch Holz verliert sich nicht in der Historie. Er spürt die Begründungen des heutigen Bildungsauftrags öffentlicher Musikschulen auf und diskutiert, ob Humboldts Bildungstheorie und Schil­lers Ideen einer ästhetischen Erziehung heute aktuell und eingelöst seien oder doch eher zeitgebunden blieben.
Rieß und Holz kommen in vielen Punkten, durchaus von verschiedenen Blickwinkeln, zu ähnlichen Schlussfolgerungen. So wird eine der Schlüsselfragen, die nach der Beziehung von Musikunterricht und allgemeinen Erziehungswissenschaften, von beiden, auch anhand von Quellenmaterial aus dem 19. Jahrhundert (etwa Lina Ramann), ausführlich diskutiert. Beide greifen dieses bereits 1970 von Sigrid Abel-Struth beschriebene und nach wie vor ungeklärte Spannungsverhältnis auf: Ist Musikunterricht Teil allgemeiner Bildung oder ist eine gründliche Allgemeinbildung erst durch musikalisch-kulturelle Bildung mög­lich?
Öffentliche Musikschulen bewegen sich heute im Spannungsfeld künstlerischer Idealvorstellungen, gesellschaftspolitischer Erwartungen und oft schwierigster wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Am Ende muss jedoch die Wertschätzung stimmen. Und die beweist sich eben in einer soliden institutionellen Förderung und in wenigstens einigermaßen attraktiven Arbeitsbedingungen. Es hängt also vom Geld ab. Und auch wenn mancherorts die Strukturen ausgezeichnet sind – Holz beschreibt Stuttgart als Idealfall gelungener Musikschulentwicklung –, läuten doch die Alarmglocken, da bundesweit die öffentliche Musikschulfinanzierung sinkt. Be­zeichnend ist, dass in manchen Bundesländern nach wie vor ein Großteil des Unterrichts von Honorarkräften geleistet wird.
Es lohnt sich sehr, die beiden ausgezeichneten Werke, denen man eine weite Verbreitung wünscht, zu lesen. Rieß und Holz blicken von verschiedenen Perspektiven auf die Musikschule, beide tun es facettenreich, sehr fundiert und erkenntnisreich. Besonders wohltuend ist, dass Bildungsbegriffe inhaltlich bestimmt und diskutiert und einmal nicht einer interessengelenkten (Bildungs-)Politik überlassen werden. Schade ist nur, diese kleine Kritik muss sein, dass beide die Entwicklung der Musikschulen in der DDR außer Acht lassen.
Uwe Sandvoß