Widmaier, Martin
Differenzielles Lernen in der Musik
Ein Update
Seit 1999 ist das „Differenzielle Lernen“ in der Welt, seit 2007 auch in der Musikwelt. Der Name des Ansatzes ist Programm: Es geht um die Lernwirksamkeit von Unterschieden. Viele Musikerinnen und Musiker halten das Konzept zwar für hochplausibel – allein schon deshalb, weil Instrumentalspiel unentwegtes Adaptieren ist, nicht bloßes Reproduzieren. Fast ebenso häufig wird aber die Frage gestellt, wo denn die zahllosen Varianten herkommen sollen, die nötig sind, um einschleifendes Üben in den Ruhestand zu schicken und differenzielles Üben ins Werk zu setzen. Anlass genug für ein griffiges Update…
Üben soll vergnüglich sein! So geistreich wie sinnlich! Aus diesem Grund waltet in diesem Aufsatz kein heiliger Ernst. Womit ich schon über das Wort „Ernst“ gestolpert wäre. Den wünsche ich mir ja – aber nicht in Form von Lehrmeinungen, sondern von theoriegesättigten, widerspruchsfreien, praxisorientierten Ausführungen.
Der gute Glaube an Einschleifprozesse schwindet spätestens, wenn wir bedenken, worum es beim Üben wirklich geht. Eine Kompilation von Aussagen des Musikwissenschaftlers Thomas Kabisch umreißt den Gegenstand: „Es geht um den verdrängten Hintergrund einer Partitur; um qualitative Beweglichkeit; ums Netz der Tempo-Differenzen; um Mehrdimensionalität; um die Eigengesetzlichkeit der Komposition; um Befreiung vom Terror der Meisterwerke; um Objektbildung.“1 Im Sport mag es vor allem um „höher, schneller, weiter“ gehen, und ein neuer Ansatz wie das differenzielle Training mag der Erfolgsoptimierung dienen. In der Musik spielen die Vokabeln „hoch, schnell, weit“ zwar ebenfalls eine Rolle – und keine unwichtige. Aber sie kratzen nur an der Oberfläche dieser wunderbaren Kunst. Hier rückt eine ganz andere Bedeutung in den Vordergrund: Im differenziellen Üben kommen Mensch, Instrument und Musik ganz zu sich und zueinander. „Damit wäre differenzielles Üben weit mehr als eine instrumentalpädagogische Empfehlung. Es wäre eine in der Sache begründete Notwendigkeit.“2
Vater des Differenziellen Lernens ist der Sportwissenschaftler Wolfgang Schöllhorn. 1999 hat er einen ersten Grundlagenartikel zum Thema veröffentlicht und seither eine lange Reihe von Studien vorgelegt,3 nach deren Lektüre eigentlich nur ein Fazit bleibt: „Das geht auch mich an.“ 2007 steuerte der Verfasser des vorliegenden Textes einen ersten Aufsatz zum Differenziellen Lernen in der Musik bei.4 Heute hat die Sache bereits ziemlich weite Kreise gezogen. Aktuelle Beispiele:
– vier Kölner Musikstudentinnen und ihr Videoprojekt „Differenzielles Lernen auf dem Streichinstrument“, ausgezeichnet im Hochschulwettbewerb Musikpädagogik,5
– Praxisprojekt „Differenzielles Üben“ an der Musikhochschule Dresden, durchgeführt im Rahmen des sächsischen Digital-Fellowship-Programms.6
Hohe Zeit also für eine schlüssige gedankliche Entfaltung des differenziellen Übens – vielleicht in drei Schritten.
Schritt 1: sich üben
Wenn jemand vom „Sich-Üben“ und „Etwas-Üben“ spräche, was würden Sie darunter verstehen? Die Wendungen „sich üben“ und „etwas üben“ sind kein Fachvokabular – schon deshalb müssen wir uns über deren Bedeutung verständigen. Vielleicht so: Sich-Üben und Etwas-Üben sind zweierlei Dinge – aber auch zwei Seiten einer Medaille.
Drei Beispiele für das Sich-Üben:
– das Sportstudio besuchen für eine stärkere Stützmuskulatur,
– die Wanderstiefel schnüren für mehr körperliche Ausdauer,
– den Meditationssitz einnehmen, um das Gedankenkarussell auszubremsen.
Drei Beispiele für das Etwas-Üben:
– Geschmeidigkeit der Bogenführung,
– Feinabstimmung der Tonhöhen,
– einige Takte von Johann Sebastian Bach.
Wer „sich“ übt, wird „etwas“ (aus-)üben, das diesem Zweck dient. Wer „etwas“ (ein-)übt, wird dabei zwangsläufig auch „sich“ üben.7 Das Sich-Üben ist ein Entwicklungsprozess, das Etwas-Üben ein Lernprozess. Womit nur Letzteres im Geltungsbereich von Lerntheorien liegt und im Zentrum dieses Aufsatzes steht.
Schritt 2: etwas üben
Das Spannungsfeld zwischen „sich üben“ und „etwas üben“ ist klar. Nun darf ich wieder dem allgemeinen Sprachgebrauch unter Musikerinnen und Musikern folgen und das „Etwas-Üben“ kurz als „Üben“ bezeichnen. Was also ist Üben? Kann ja nicht so schwer sein, machen wir ja jeden Tag! Vorläufige Antworten fallen vermutlich deskriptiv (beschreibend) oder präskriptiv (vorschreibend) aus. Noch befriedigender könnte eine Definition sein. Hierfür wären drei Elemente ins engere Kalkül zu ziehen:
– die eigene Person,
– das jeweilige Instrument,
– die Musik (im Besonderen und im Allgemeinen).
1 Kompilation eines Textes von Thomas Kabisch in Widmaier, Martin: Zur Systemdynamik des Übens. Differenzielles Lernen am Klavier, Mainz 2016, S. 155. Die vollständigen Passagen finden sich in Kabisch, Thomas: „Hans Kellers Functional Analysis und die Voraussetzungen des differentiellen Hörens“, in: Musik und Ästhetik, 1, 2009, S. 72-86.
2 ein vorläufiges Fazit meines Buchs, siehe Widmaier, Martin, Zur Systemdynamik des Übens, S. 155.
3 Wolfgang Schöllhorns erster Grundlagenartikel hieß „Individualität – ein vernachlässigter Parameter?“ (in: Leistungssport, 2, 1999, S. 7-11), der zweite „Differenzielles Lehren und Lernen von Bewegung. Durch veränderte Annahmen zu neuen Konsequenzen“ (in: Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in Biomechanik, Sportmotorik und Trainingswissenschaft, hg. von Hartmut Gabler, Ulrich Göhner und Frank Schiebl, Hamburg 2005, S. 125-135); zahlreiche Studien auf https://tws-bws.uni-mainz.de/forschung/publikationen (Stand: 9.2.2023).
4 Widmaier, Martin: „Differenzielles Lernen. Sachgemäßes Üben im Randbereich des Lösungsraums“, in: üben & musizieren, 3, 2007, S. 48-51.
5 https://hwmp.hfmt-koeln.de/2020-preistraegerinnen (Stand: 9.2.2023).
6 https://www.hfmdd.de/hochschule/institute-einrichtungen/institut-fuer-musikpaedagogik/differenzielles-ueben (Stand: 9.2.2023).
7 zum „Ausüben“ und „Einüben“ einer Tätigkeit siehe Bollnow, Otto Friedrich: Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrung, durchgesehene und erweiterte 3. Auflage, Stäfa 1991, S. 20-25.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2023.