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Herbst, Sebastian

Digitale Medien sinnvoll einsetzen

Das SAMR- und iPAC-Modell als Inspiration und Reflexionsfolie zur Gestaltung hybrider Musizierlernwelten

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 5/2022 , Seite 36

Digitale Medien sind immer häufiger Bestandteil musizierbezogener Lehr-Lern-Prozesse. In diesem Beitrag wird anhand von Beispielen skizziert, inwiefern das SAMR-Modell und das iPAC-Modell dazu beitragen können, den Einsatz digitaler Medien zu reflektieren, Potenziale für musizier­bezogene ­Lernziele und -aufgaben zu erkennen, neue Ideen zu entwickeln und schließ­-lich analoge und digitale Vermittlungs­formen sinnvoll ­miteinander zu ­kombinieren.

Die sich stetig weiterentwickelnden digitalen Medien stellen Lehrende vor eine didaktische Herausforderung: Es „ist immer aufs Neue ihre Professionalität gefragt, […] zu entscheiden, welches Medium wie und vor allem zu welchem Zweck eingesetzt werden soll“.1 Dabei ist es aus meiner Sicht nachvollziehbar, dass wir zunächst den Blick auf die Vielfalt der technischen Möglichkeiten richten und von dort aus über­legen, wie wir sie gewinnbringend in den Unterricht integrieren können. Aus didaktischer Perspektive ist es jedoch problematisch, wenn es bei dieser Denkrichtung bleibt. Auf diese Weise fragen wir, welche Ziele mit einem Medium erreicht werden können. Sinnvoller wäre es aber, das Ziel zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen und zu fragen: Wie können wir ein zuvor definiertes Ziel erreichen und welche Medien eignen sich dazu?
Der Einsatz digitaler Medien in musizierbezogenen Lehr-Lern-Prozessen folgt außerdem oft dem Prinzip, dass bewährte Lernarrangements entweder mit digitalen Medien ergänzt oder gar unverändert in ein digitales Medium übertragen werden. Nicht nur, dass sich dann die Frage nach dem Mehrwert des Einsatzes digitaler Medien mit Blick auf musizierpädagogische Zielsetzungen stellt. Vielmehr wird dadurch das Potenzial digitaler Medien in Bezug auf die Entdeckung neuer Lernwege und -ziele nicht ausgeschöpft, es bleibt sogar unerschlossen. Meines Erachtens ist es daher notwendig, mit Blick auf musizierpädagogische Zielsetzungen bereits bestehende Lernarrangements und -aufgaben mit digitalen Medien zu reflektieren sowie neue Lernarrangements und -aufgaben durch bewusstes Hinausgehen über gewohnte Denkmuster zu entwickeln. Dies sollte sinnvollerweise nicht nur für den Unterricht geschehen. Es sollte auch das Potenzial digitaler Medien für Lernarrangements und -aufgaben in den Musizierlernwelten des Privaten, des Ensembles und der Auftritte erschlossen werden.2

Das SAMR-Modell

Hierzu eignet sich beispielsweise das von Ruben R. Puentedura entwickelte SAMR-Modell.3 Das Modell hat seinen Namen durch die vier Stufen des Modells erhalten, die den Einfluss digitaler Medien auf die Gestaltung von Lernarrangements und -auf­gaben beschreiben: ausgehend von einem Ersatz analoger Arbeitsmittel durch digi­tale Medien ohne funktionale Änderungen (Substitution) über die Erweiterung und funktionale Verbesserung (Augmentation) bis hin zur Modifizierung und beachtlichen Neugestaltung von Aufgaben (Modifi­cation) sowie Neubelegung von Aufgaben bzw. Erstellung gänzlich neuartiger Aufgaben (Redefinition).
Klaus Zierer kommt mit Blick auf die Stufen zu folgender Hypothese: „Je besser es Lehrpersonen gelingt, neue Medien so einzusetzen, dass sie bisherige Aufgaben im Hinblick auf Anforderungsniveau und Kommunikation ändern und neu belegen, desto größer wird der Einfluss auf die Lernleistung von Schülerinnen und Schüler[n] sein.“4 Gerade eine solche Sichtweise, die das Modell durch die hierarchische Darstellung in Stufen impliziert, kritisieren Erica R. Hamilton et al.5 Dieser Kritik möchte ich mich anschließen. Das Modell wird hier nicht angeführt, um die Integration von digitalen Medien ausschließlich auf der Stufe der „Redefinition“ anzustreben. Im Gegenteil gehe ich davon aus, dass der bewusste Einsatz digitaler Medien auf jeder der vier Stufen sinnvoll sein kann, wenn das Ziel zugunsten der Technik nicht aus den Augen verloren wird.
Das Potenzial des Modells sehe ich zum einen in seiner Funktion als Reflexionsfolie für bereits durch den Einsatz von digitalen Medien geprägten Lernarrangements und
-aufgaben. Darüber hinaus können die Stufen der „Augmentation“, „Modification“ und „Redifinition“ als Inspiration, z. B. in Think-Tanks mit Kolleginnen und Kollegen dienen: Wie lassen sich Lernarrangements und -aufgaben durch den Einsatz ­digitaler Medien verbessern? Wie können Aufgaben durch den Einsatz digitaler Medien deutlich neu gestaltet werden? Und welche neuen Aufgaben lassen sich mit Blick auf welche Lernziele durch den Einsatz digitaler Medien entwickeln? Dabei sollte zunächst jede Idee erlaubt sein, bearbeitet und weiterentwickelt werden, auch wenn sich große Zweifel in Bezug auf die technischen Umsetzungsmöglichkeiten auftun. Denn unsere Ideen sollten sich nicht nur an den technischen Möglichkeiten orientieren, sondern die technischen Möglichkeiten auch an unseren Ideen.

Substitution und Augmentation

Für die „Substitution“ wird angenommen, dass digitale Medien in Lehr-Lern-Prozessen lediglich als Ersatz für herkömmliche Medien eingesetzt werden, ohne dass ihr Einsatz das Lernarrangement oder die -aufgabe verändern. Nehmen wir beispielsweise an, die SchülerInnen verwenden ein Tablet als Notenbibliothek: Statt eines Notenhefts stellen sie das Tablet auf den Notenständer und haben die Möglichkeit, mit einem Stift Fingersätze, Hinweise zur dynamischen Gestaltung o. Ä. zu notieren. Dies entspricht denselben Möglichkeiten, die sie mit den herkömmlichen Medien haben. Gleiches gilt zunächst auch für eine auf dem Tablet gespeicherte Datei, in der die Hausaufgaben eingetragen werden.
Betrachten wir diese Beispiele erweitert unter dem Aspekt der „Augmentation“, ergeben sich Möglichkeiten, um Lernaufgaben durch den Einsatz digitaler Medien zu erweitern. Wird als Notenbibliothek z. B. eine spezifische App verwendet, die zusätzliche Notizen in Form selbstgeschriebener, verknüpfbarer Memos ermöglicht oder ein Metronom bereithält, liegt eine funktionale Verbesserung in Bezug zu den Medien Notenheft und Stift vor, die neue Möglichkeiten für die Gestaltung von Lernaufgaben mit sich bringt. Deutlich wird dies auch im Fall eines digitalen Hausaufgabenhefts als App, in der z. B. Videos verlinkt sowie Audioaufnahmen angefertigt und gespeichert werden können und Lehrende sowie Lernende die Möglichkeit haben, auch außerhalb des Unterrichts miteinander in Kontakt zu treten.

Modification und Redefinition

Im Rahmen der „Modification“ führt die Integration digitaler Medien darüber hinaus zu einer erheblichen Neugestaltung einer Aufgabe. So können sich SchülerInnen beispielsweise mithilfe von Musikproduktionsapps außerhalb des Unterrichtsraums vernetzen und das Üben durch die gemeinsame Bearbeitung von Aufgaben (z. B. gegenseitiges Feedback zu selbst erstellten Aufnahmen; kollaborative Musikproduktions- bzw. Kompositionsaufgaben) in synchroner und asynchroner Kommunikation zum echten sozialen Anlass werden lassen. Und im Unterricht könnte etwa der Klang des eigenen Spiels mithilfe von Apps, die das Klangspektrum messen, im Sinne des forschenden Lernens analysiert und verbessert werden.6
Die Stufe der „Redefinition“ ist besonders spannend für die didaktische Neugestaltung von Lernarrangements und -aufgaben. Sie ist erreicht, wenn der Einsatz digitaler Medien gänzlich neue Aufgaben ermöglicht, die ohne den Einsatz digitaler Medien nicht denkbar gewesen wären. Sie erfordert daher aber auch ein besonders hohes Maß an Kreativität und das Hinausgehen über gewohnte Denkmuster. Ein Beispiel könnte die Entwicklung von Lernarrangements und -aufgaben sein, die erst mithilfe von Virtual Reality Technology, Mikrofonen/Tonabnehmern, Kopfhörern und entsprechender Software möglich werden.
Beispiel 1: SchülerInnen erhalten in einem entsprechend ausgestatteten Unterrichtsraum die Möglichkeit, mit ihrem Instrument virtuell in unterschiedlichen Konzertsälen zu spielen. Mit einer VR-Brille betreten sie die jeweilige Bühne im virtuellen Raum und hören über die Kopfhörer ihr über ein Mikrofon aufgenommenes Spiel, das durch Computersimulation die Raumakustik des jeweiligen Konzertsaals berücksichtigt. Die SchülerInnen erfahren, wie das eigene Instrument in unterschiedlichen Räumen bis hin zu großen Konzertsälen klingen kann, und erwerben Strategien, ihr Spiel auf die Eigenschaften verschiedener Bedingungen der Raumakustik anzupassen.
Beispiel 2: Im Unterricht wird eine Stimme eines Ensemblestücks erarbeitet. Im oben beschriebenen technischen Setting könnte es möglich werden, Platz im Ensemble, zum Beispiel in einem berühmten philharmonischen Orchester zu nehmen, das Stück gemeinsam mit den anderen Musikerinnen und Musikern im Konzertsaal zu spielen und die eigene Stimme tatsächlich von diesem Platz aus im Zusammenklang mit den anderen Musikerinnen und Musikern zu hören. Dabei könnten Bewegungen des Kopfes zu einer veränderten Klangwahrnehmung im Raum führen, wie es beispielsweise professionelle 3D-In-Ear-Monitoring-Systeme ermöglichen.
Zugegeben: Diese Lernarrangements sind noch etwas hypothetisch, da es die dazu notwendige Software für den Einsatz im Musizierunterricht so noch nicht gibt. Ein Ansatz in diese Richtung zeigt sich in Apps, die beispielsweise auf einem E-Piano die Wahl unterschiedlicher Raumakustik ermöglichen. Die entsprechende Hardware stünde auf jeden Fall bereit, zudem könnte man auf die vielfältig existierenden digitalen Prozessoren im Musikproduktionsbereich zurückgreifen, mit deren Hilfe die Akustik berühmter Konzertsäle und Kirchen imitiert werden kann.

Das iPAC-Modell

Als weitere Reflexionsfolie zur Bewertung digitaler Lernarrangements und -aufgaben ist das von Matthew Kearney et al. entwickelte iPAC-Modell7 zu nennen, mit dessen Hilfe sich der jeweilige Grad an Personalisierung (Personalization), Authentizität (Autenthicity) und Zusammenarbeit (Collaboration) beschreiben lässt. Mit Blick auf den Aspekt Personalisierung kann Lernen in digitalen Lernräumen durch ein ­hohes Maß an Eigenverantwortung im Rahmen selbstregulierten Lernens gekennzeichnet sein. So besteht beispielsweise „der Umgang mit Online-Videotutorials […] in der Regel aus einem selbstinitiierten, selbstgesteuerten, hochgradig individualisierten Lernen, das im Vergleich zu anderen Lernpraxen […] ein hohes Maß an Flexibilität bietet“.8 Lernende bestimmen dabei selbst, was, von wem, wann, wo und in welchem Tempo sie lernen wollen. Das Merkmal Authentizität weist hingegen auf das Potenzial digitaler Lernarrangements und -aufgaben für kontextbezogenes, partizipatorisches, situiertes Lernen hin.9 Beispielsweise kann für die Produk­tion einer CD der Instrumentalklasse das eigene Spiel aufgenommen und bearbeitet werden. Das Merkmal der Zusammenarbeit bezieht sich auf die Möglichkeiten, sich in digitalen Lernräumen mit anderen über Ort und Zeit hinaus zu vernetzen, sodass auch außerhalb des Unterrichts weitergearbeitet werden kann.

Hybride Musizierlernwelten

Nur wenn wir uns die Mühe machen, die jeweiligen Potenziale analoger und digitaler Medien für die Gestaltung von Lern­arrangements und -aufgaben mit Blick auf musizierpädagogische Lernziele herauszuarbeiten und zu vergleichen, wird es möglich, diese auch in hybriden Lernräumen zwischen digitalen und analogen Lehr-/ Lernformen10 durch die „Kombination verschiedener medialer Vermittlungsformen“11 synergetisch zu nutzen. Erst auf diese Weise lassen sich Formate des Blended Learnings sinnvoll gestalten, die „die […] verfügbaren Möglichkeiten der Vernetzung über Internet oder Intranet in Verbindung mit klassischen Lernmethoden und -medien in einem sinnvollen Lernarrangement“12 nutzen.
Ich möchte Sie daher dazu anregen, gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen vielfältige Ideen zur Gestaltung von Musizierlernwelten auf den Stufen der „Substitution“, „Augmentation“, „Modification“ und „Redefinition“ mit Blick auf musizierpädagogische Ziele zu entwickeln und diese dahingehend zu befragen, inwiefern sie die Merkmale der Personalisierung, Authentizität und Zusammenarbeit ausschöpfen. Wenn im Anschluss nur ein Bruchteil Ihrer kreativen Ideen umgesetzt werden kann, sind wir schon ein gutes Stück weiter…

1 Zierer, Klaus: Lernen 4.0. Pädagogik vor Technik. Möglichkeiten und Grenzen einer Digitalisierung im Bildungsbereich, Baltmannsweiler 2020, S. 87.
2 Nach Natalia Ardila-Mantilla sind Musizierlernwelten „Bereiche von Praktiken des Vermittelns und Lernens von Musik […], die Musikschul-Lehrerinnen erkennen, mitgestalten und in ihre päda­gogische Arbeit integrieren können“. Siehe dazu: Ardila-Mantilla, Natalia: „Vielfältige Arbeitsweisen, verschiedene Zielvorstellungen, koexistierende Communities. Die Pluralität der Musikschularbeit aus der Perspektive der Lehrerinnen und Lehrer“, in: Ardila-Mantilla, Natalia/Röbke, Peter/ Stekel, Hanns: Musikschule gibt es nur im Plural. Drei Zugänge, Innsbruck 2015, S. 54.
3 Puentedura, Ruben R.: „Transformation, Techno­logy, and Education“, 2006, http://hippasus.com/ resources/tte (Stand: 20.8.2022).
4 Zierer, Klaus: Lernen 4.0, S. 89.
5 Hamilton, Erica R./Rosenberg, Joshua M./Akca­oglu, Mete: „The Substitution Augmentation Modification Redefinition (SAMR) Model: a Criti­cal Review and Suggestions for its Use“, in: TechTrends, 60. Jg., 2016, S. 433-441, hier S. 436.
6 Siehe dazu den Beitrag von Philipp Ahner in der nächsten Ausgabe von üben & musizieren.
7 Kearney, Matthew/Burden, Kevin/Schuck, Sandy: Theorising and Implementing Mobile Learning. Using the iPAC Framework to Inform Research and Teaching Practice, Singapore 2020, S. 156.
8 Doerne, Andreas: Musikschule neu erfinden. Ideen für eine Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019, S. 175 f.
9 Kearny, Matthew et al., Theorising and Implementing Mobile Learning, S. 63.
10 Scheidig, Falk: „Digitale Formate des Praxis­bezugs im Lehramtsstudium. Ein Überblick“, in: Kaspar, Kai/Becker-Mrotzek, Michael/Hofhues, Sandra/König, Johannes/Schmeinck, Daniela (Hg): Bildung, Schule, Digitalisierung, Münster 2020, S. 473.
11 Schreier, Tanja: „Die Lingscape-App als digitales Lehr- und Lernmedium in Schulen? Evaluation und Vorbereitung eines Einsatzes der App im Rahmen eines Seminars an der Universität Würz­burg“, in: Kaspar, Kai et al., Bildung, Schule, Digi­talisierung, S. 259.
12 Kantereit, Tim (Hg.): Hybrid-Unterricht 101. Ein Leitfaden zum Blended Learning für angehende Lehrer:innen, 2020, S. 72, online unter https://visual-books.com/download/2845 (Stand: 29.8.2022).

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