© Kristin Thielemann

Thielemann, Kristin

Doppelt zappelt besser?!

ADHS im Unterricht: Energie und ­Anderssein als Chance begreifen

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2017 , Seite 32

Was passiert eigentlich, wenn man zwei von ADHS betroffene Kinder in einer Kleingruppe unterrichtet? Mit welchen Strategien lassen sich die Kinder beruhigen oder liegt vielleicht sogar enormes Potenzial darin, das Tempo der Kinder aufzunehmen und in musikalischen Projekten um­zusetzen? Kristin Thielemann hat mit zwei Schülern den Versuch gewagt.

Medizinischer Fachliteratur zufolge ist heute etwa jedes sechste bis siebte Kind von der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen.1 Wer also 40 SchülerInnen unterrichtet, müsste statistisch gesehen etwa fünf bis sechs entsprechende Kinder in seiner Instrumentalklasse haben. Die Gründe sowie eine genaue medizinisch-psychologische Analyse für dieses Krankheitsbild sollen an dieser Stelle aber zugunsten von Praxiserfahrungen in den Hintergrund treten.
Bei InstrumentalschülerInnen mit ADHS ist die Ratlosigkeit unter Lehrkräften oft groß, da die betroffenen Schülerinnen und Schüler nicht wie üblich den gewohnten Unterrichtsabläufen folgen können. Viele behalten nur mit Anstrengung die für das Musizieren vorteilhafte Körperhaltung über eine längere Zeit bei, äußern sprunghafte Gedankengänge und zeigen eine niedrige Frustrationstoleranz. Selbst gewissenhaft erstellte Vorbereitungen oder Lehrpläne können innerhalb kürzester Zeit zerstört werden.2
Im Vorgespräch oder in Probelektionen bin ich dazu übergegangen, die Eltern nach „Besonderheiten“ ihres Kindes zu fragen. Als Bläserin interessieren mich hier natürlich vor allem logopädische oder mundmotorische Probleme sowie Asthma. Aber auch nach Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten frage ich seit einiger Zeit routinemäßig. Es ist erfahrungsgemäß von Vorteil zu wissen, wenn bei einem Schüler oder einer Schülerin bereits ADHS diagnostiziert wurde und er oder sie eventuell regelmäßig Medikamente einnimmt, die die Aufmerksamkeit stärken und die Impulsivität mildern sollen, da manche Nebenwirkungen auch das Inst­rumentalspiel beeinflussen können.3
Des Weiteren sollte man sich als Lehrkraft darüber im Klaren sein, dass ADHS nicht immer in Reinform auftritt und sich nicht alle medizinisch-psychologischen Symptome bei jedem Schüler zeigen. Komorbide Störungen, also weitere psychische Beeinträchtigungen, treten bei ADHS häufig auf. Diese äußern sich als Lernstörungen (46%), Störungen des Sozialverhaltens (27%), Angststörungen (18%), Depressionen (14%) und Sprachprob­leme (12%).4

1 Erik G. Willcutt: „The prevalence of DSM-IV attention-deficit/hyperactivity disorder: a meta-analytic review“, in: Neurotherapeutics 9, Nr. 3, Juli 2012, S. 490 ff.
2 Natürlich gibt es auch andere Gründe, weshalb sich gewissenhaft vorbereitete Unterrichtsstunden nicht wie gewünscht durchführen lassen. Die Praxis des Instrumentalunterrichts mit ADHS-Kindern zeigt allerdings, dass ein von der Lehrkraft vorher festgelegter Unterrichtsverlauf in den seltensten Fällen wie geplant durchgeführt werden kann.
3 Bei Methylphenidaten (z. B. Ritalin) können in erster Linie Muskelzuckungen, Verstärkung von Tics, Schläfrigkeit, bei Bläsern auch Mundtrockenheit zu Problemen werden, welche als Nebenwirkung im normalen Schulalltag der Kinder und Jugendlichen nicht speziell auffällig sind.
4 Kandyce Larson/Shirley A. Russ/Robert S. Kahn/Neal Halfon: „Patterns of Comorbidity, Functioning, and Service Use for US Children With ADHD“, 2011, zitiert nach Tina In-Albon (Hg.): Emotionsregulation und psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter. Grundlagen, Forschung und Behandlungsansätze, Kohlhammer, Stuttgart 2013.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2017.