Tellisch, Christin

„Du machst nur Müll!“

Im Musikunterricht interagieren Lehrkräfte manchmal verletzender als in anderen Unterrichtsfächern

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2015 , musikschule )) DIREKT, Seite 09

Wir befinden uns im jahrgangsübergreifenden Anfangsunterricht an einer staat­lichen Grundschule. Auf dem Stundenplan steht Tanzen: Die Lehrerin spielt eine CD ab und erklärt den Kindern dazu Tanzschritte. Danach stellt sie die CD erneut an, wobei die SchülerInnen nun mittanzen sollen. Marcel jedoch wurde vom Tanzen ausgeschlossen, da er laut Lehrerin nicht die dazu notwendige Disziplin gezeigt habe und nun bestraft werden müsse. Die Lehrerin erlegt ihm die Strafe auf, in einer Ecke sitzen zu müssen. Christian, ein anderer Schüler, tanzt mit. Auf einmal stürmt die Lehrerin auf Christian zu, zieht ihn unsanft am Arm zur Seite und sagt laut und aufgeregt, dass er sich setzen solle. Sie deutet dabei mit ihrer Hand auf einen Stuhl am Rand.

Ohne auf den Jungen näher einzugehen, wendet sie sich an die Klasse und sagt, dass er jetzt nicht höre und auch beim Tanzen nicht gehört habe. Sie fragt die Klasse, was Christian gemacht habe, was er nicht sollte. Einige SchülerInnen melden sich und antworten, dass er angefasst habe. Daraufhin nickt die Lehrerin zustimmend, während Christian mit gesenktem Kopf am Rand der Szene sitzt. Für den im Raum anwesenden Unterrichtsbeobachter wird das Kind für sein angebliches Fehlverhalten unangemessen bestraft, die Musiklehrerin wirkt überfordert. Auch der Beobachter fühlt sich in dieser Situation erbost und unwohl.
Die Szene zeigt, wie schnell man als MusikpädagogIn in Situationen geraten kann, in denen man hilflos oder überfordert ist und nicht im Sinne des Kindes agiert. Solche und ähnliche Szenen konnten mehrfach im Forschungsprojekt INTAKT der Universität Potsdam beobachtet werden – nicht nur beim Tanzen, sondern auch bei Unterrichtseinheiten wie Singen, Instrumentalspiel, Rhythmusspiel oder Theorie.

Forschungsprojekt INTAKT

Das Forschungsprojekt INTAKT untersucht, wie MusiklehrerInnen im Schulalltag interagieren. Die Studie gibt einen Einblick in human-anerkennendes und -missachtendes Handeln von MusiklehrerInnen. Innerhalb des Projektverbunds wurde von 2008 bis 2012 Musikunterricht an 19 Primar- und elf Sekundarschulen untersucht, mit Beobachtungen aller Klassenstufen bei 39 MusiklehrerInnen: 1105 Szenen in 91 protokollierten Unterrichtsstunden. Jede Szene wurde anhand einer Skala von -2 bis +2 eingeordnet, deren Werte für Grade der Anerkennung oder Verletzung des Kindes in den Lehrer-Schüler-Interaktionen stehen. Da pädagogisches Handeln Mehrdeutigkeiten und Widersprüche aufweisen kann, wurde auch die Kategorie „schwer einzuordnen“ aufgenommen (siehe Tabelle).

Die Analyse der Häufigkeitsverteilung der Grade der Anerkennung in den Lehrer-Schü­ler-Interaktionen im Musikunterricht (siehe Tabelle) ergibt, dass 40,4% (445 Szenen) als an­erkennend kategorisiert wurden. Davon wurden 8,5% (94) „sehr anerkennend“ und 31,9% (351) „leicht anerkennend“ gestaltet. Als „neutral“ wurden 24% (265) und als den Schüler verletzend 29% (320) eingestuft, davon 20,5% (226) als „leicht verletzend“ und 8,5% (94) als „schwer verletzend“. Ambivalente Szenen („schwer einzuordnen“) wurden eher selten nach­­gewiesen (6,5%, 72).

 

Vergleich mit anderen Fächern

Beim Vergleich dieser Ergebnisse mit den Befunden der INTAKT-Studien aus anderen Fächern ist festzustellen, dass starke Unter­schiede in der Anzahl neutraler Szenen der Lehrer-Schüler-Interaktionen bestehen: In den anderen Fächern zeigen ein Drittel aller Szenen neutrales Interaktionsverhalten (33,5%, 780 Szenen). Ein weiterer Vergleich zeigt, dass im Musikunterricht etwas weniger als ein Drittel (29%, 320), in der Gesamtdatenmenge aller anderen Unterrichtsfächer jedoch nur etwas weniger als ein Viertel aller Szenen (21,9%, 510) als verletzend eingestuft wurden. Während im Musikunterricht 20,5% (226) als „leicht verletzend“ und 8,5% (94) der Szenen als „schwer verletzend“ eingestuft wurden, sind die Werte für die Gesamtdatenmenge mit 16,7% (388) für die „leicht ver­letzenden“ und 5,2% (122) für die „schwer verletzenden“ Szenen etwas niedriger. Im Rahmen dieser Studie konnten also im Musikunterricht mehr verletzende und weniger neut­rale Lehrer-Schüler-Inter­aktionen als in der Gesamtzahl aller anderen Fächer beobachtet werden.
Die beiden Tortendiagramme geben einen Überblick über die verschiedenen Formen anerkennenden und verletzenden Lehrerverhaltens, die in der Studie beobachtet werden konnten, sowie deren Häufigkeit. Es wird ersichtlich, dass Musiklehrkräfte vor allem wertschätzend mit Lob reagieren, aber auch, indem sie die Selbstständigkeit oder Kreativität der Kinder fördern oder sinnvolle Hilfen leisten und freundlich kommentieren. Verletzend interagieren sie oft mittels destruktiver Kommen­tare, durch Anbrüllen oder Ignoranz gegenüber dem Kind.

Kinderrechtskonvention

Es stellt sich die Frage, nach welcher Maßgabe die Szenen eingeordnet wurden, denn schließlich gilt es – laut oben stehenden Grafiken – als missachtend, wenn der Schüler keine Grenzen erhält und als anerkennend, wenn auf negatives Verhalten konstruktiv seitens der Lehrkraft reagiert wird.
Die Grundlage dafür bieten die Menschen­rechtserklärung und die Kinderrechtskonvention. In diesen Erklärungen wird u. a. dargelegt, dass die SchülerInnen in ihrer Persönlichkeit, Begabung, den geis­tigen und körperlichen Fähigkeiten gefördert werden sollen, wobei ihnen in allen Prozessen Achtung entgegengebracht werden soll (vgl. Kinderrechtskonvention Art. 29-1a/b). Diskriminierungen jeglicher Art sind untersagt (vgl. ebd. Art. 2). Vielmehr ist die Disziplin so zu wahren, dass die Lernatmo­sphäre der Menschenwürde des Kindes entspricht (vgl. ebd. Art. 28-2).
Interessant für den Musik- und Instrumentalunterricht ist zudem die Erklärung, dass das Kind das Recht auf eine volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben hat, wofür geeignete Möglichkeiten vor allem im schulischen Musik-, aber auch Instrumentalunterricht bereitgestellt werden müssen (vgl. ebd. Art. 31-2).

Anerkennender Unterricht

Wie sieht eine der vielen anerkennenden Unterrichtsszenen im Musikunterricht aus? An einer staatlichen Grundschule in einer zweiten Klasse im Musikunterricht mit inst­rumentalem Schwerpunkt wurde folgende Szene beobachtet: Anton hat eine Schlauchtrompete mitgebracht, die er in einer vorangegangenen Unterrichtssequenz bereits kurz vorgestellt hatte. Nun holt er aus seiner Tasche Notenblätter. Anton sagt jedoch, dass er nicht vorspielen möchte. Daraufhin ruft Klaus provozierend, dass er es nur nicht gut könne. Die Lehrerin reagiert verständnisvoll und meint, dass er es vielleicht könne, aber nicht wolle. Zudem fragt sie die Klasse neugierig, wer ein ähnliches Instrument schon einmal gesehen habe. Daraufhin meldet sich Paul und erzählt von seinem Opa, der ein Posthorn hat. Bei diesem Instrument gebe es aber keinen Schlauch, sondern ein Metallrohr, erklärt er.
Die Lehrerin geht auf die Antwort Pauls ein und erklärt den Unterschied zwischen Schlauchtrompete und Horn. Dann widmet sie sich wieder Anton und fragt ihn, ob er einen kurzen und einen langen Ton spielen könne. Das traut sich der Junge zu und spielt den kurzen Ton. Die Klasse lacht laut, als Anton spielt, weil sich der Ton „wie ein Pups“ anhört. Die Lehrkraft lobt Anton und sagt freudig: „Prima, dass du dieses Instrument mitgebracht hast.“ Sie klatscht und alle Kinder stimmen in den Beifall ein.
Diese Szene zeigt die individuelle Förderung eines Kindes auf der einen und die Gleichheit im Hinblick auf die Tätigkeit des Zuhörens und der Erziehung zur Toleranz der SchülerInnen auf der anderen Seite. Die Lehrerin überlässt dem Kind die Vorführung des Instruments und unterstützt es, indem sie angemessene Anforderungen stellt und für eine gute Lernatmosphäre in der Klasse sorgt; beispielsweise dadurch, dass sie die Kinder durch ihr eigenes Vorbild zum Beifall-Klatschen ermutigt. Auf das Lachen der Klasse wegen des Tons geht sie nicht ein, sondern zollt dem Jungen Anerkennung für sein Engagement, dieses Instrument mitgebracht und vorgeführt zu haben. Die Lehrkraft achtet in der Szene auf Fairness und auf einen respektvollen Umgang miteinander, indem sie Grenzen setzt und vorbildhaft agiert. Die Untersuchung dieser Szene zeigt die Möglichkeiten von Toleranzerziehung im Unterrichtsfach Musik.

Grundsätzliche Erkenntnisse

Zunächst sollte man in kritischen Situationen stets einen klaren Kopf behalten. Das meint beispielsweise, gedanklich einen Schritt zurück zu machen und den nächsten Schritt danach zu wählen, wie es wohl am besten für die Entwicklung des Kindes wäre. Das meint konstruktives, konsequentes und wertschätzendes Agieren. Gerade Musik und ihre Nähe zu Emotionen machen es unbedingt erforderlich, einfühlsam und anerkennend mit den SchülerInnen zu interagieren, um eine lernförderliche Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Kinder gut entwickeln können. Dazu gehört auch, dass die Lehrkraft ihr verbales Verhalten immer wieder reflektiert oder sich auch Feedback seitens anderer KollegInnen durch Hospitationen holt. In diesem Zusammenhang ist auch die Refle­xion von Schülersprache ein wichtiges Feld, denn auch diese hat Wirkungen.
Leider mussten in der Studie auch immer wieder physische Übergriffe beobachtet werden. Diese gilt es unbedingt zu vermeiden. Grundlegend für einen sensiblen Umgang im Interaktionsverhalten ist die Kenntnis und Umsetzung der Kinderrechte, u. a. mit den oben genannten Schwerpunkten. Auf diese Weise ist ein großer Schritt in Richtung Anerkennung und konstruktiven Lernens gemacht.

Der Titel dieses Beitrags ist ein Lehrerzitat, das während einer Unterrichtsbeobachtung im Rahmen des Forschungsprojekts INTAKT aufgezeichnet wurde.