Doerne, Andreas / Wolfgang Lessing
Durch die Brille des „knowing with“
Grundlegende Überlegungen zur Gestaltung von IGP-Studiengängen
Szene aus dem Praktikum an einer Musikschule: Die hospitierende Studentin ist verunsichert. „Warum“, so fragt sie im Nachgespräch, „haben Sie Lukas’ Intonation nicht korrigiert? Da stimmte doch kein Ton.“ Die erfahrene Geigenlehrerin Frau Müller zögert mit ihrer Antwort. „Irgendwie habe ich gespürt, dass ich da heute nicht weit komme bei ihm. Mir war es wichtiger, erst einmal in einen Musizierfluss zu kommen.“
Vielleicht würde Frau Müller mit etwas Nachdenken besser erklären können, was genau sie da „irgendwie gespürt“ hat. Allerdings ist es kaum wahrscheinlich, dass ihr in der fraglichen Situation all diese Details bewusst waren. Ihr Handeln beruhte auf einem „impliziten Wissen“. Wer spontan eine Entscheidung trifft oder ein Urteil fällt – und genau das ist der Normalzustand pädagogischen Han-delns –, kann seine Aufmerksamkeit, so die Hypothese des Philosophen Michael Polanyi, unmöglich gleichzeitig sowohl auf die Bewältigung der Situation als auch auf die Gründe legen, auf denen diese Bewältigung basiert. Immer gibt es einen blinden Fleck zwischen dem theoretisch verfügbaren Hintergrundwissen und dem ganzheitlichen Eindruck, aus dem heraus eine spontane Entscheidung getroffen wird. Im Augenblick des Entscheidens müssen die Gründe stumm bleiben. Polanyi sprach daher, anders als es die deutsche Übersetzung seines Buchs vermuten lässt,1 weniger von „implizitem“ als vielmehr von „schweigendem“ Wissen (tacit knowledge).
Wenn wir davon ausgehen, dass pädagogisches Können zu einem überwältigend großen Anteil auf einem derart schweigenden Wissen fußt, scheint das erst einmal eine schlechte Nachricht für eine Hochschuldidaktik zu sein, die es sich zum Ziel setzt, die Studierenden zu einem kompetenten pädagogischen Handeln zu befähigen. Instrumentalpädagogische Studiengänge können dieses Ziel, so möchte man meinen, ja nur auf zweierlei Art erreichen, die aber beide letztlich unbefriedigend sind: Entweder sie bemühen sich, praktisches Können in erklärbare Regeln zu übersetzen, in der (vergeblichen) Hoffnung, die Studierenden würden über derartige Erklärungen eine implizite Handlungskompetenz erlernen können (genau das widerspräche der Struktur impliziten Wissens). Oder aber sie versuchen dieses Ziel durch eine Erhöhung der Praxisanteile im Studium zu erreichen, getreu dem Motto, dass man Praxis nur durch Praxis erlernt.
Unbefriedigend ist diese zweite Option wiederum aus zwei Gründen: Zum einen ist die Zeit zum Aufbau impliziter Wissensbestände im Rahmen eines künstlerisch-pädagogischen Bachelorstudiums natürlich immer zu kurz, wie viele ECTS-Punkte ein Curriculum für Unterrichtspraktika auch bereithalten mag. Andererseits muss man sich vor Augen führen, dass sich implizites Können zwar nicht direkt auf explizierbare Theorien zurückführen lässt, aber dennoch unbewusst theoretische Anteile besitzen kann. Theorien mögen Handeln nicht explizieren können, aber sie können, selbst wenn sie „falsch“ sind, doch wesentlich zur ganzheitlichen Wahrnehmung einer Situation beitragen, und sei es nur in Gestalt subjektiver Glaubenssätze. Auch eine rein „praxisorientierte“ Ausbildung ist daher nie theoriefrei, sie unterliegt aber der Gefahr, dass die theoretischen Anteile, die einem Handeln unterliegen, gar nicht gesehen werden.
Die hier zugespitzte Alternative führt aber nur dann in ein Dilemma, wenn man davon ausgeht, dass Wissen ausschließlich als deklaratives („knowing that“) oder als prozedurales („knowing how“) verfügbar ist. Doch es gibt noch eine dritte Möglichkeit: die des „knowing with“.2 Hiermit ist eine Haltung gemeint, bei der es weder um den fragwürdigen Versuch geht, durch Theorie die Praxis erklären zu wollen, noch um eine theoriefreie Zone des praktisch-prozeduralen Tuns. Im Zustand des „knowing with“ versuche ich, die Welt quasi spielerisch durch die Brille eines theoretischen Entwurfs zu betrachten und damit zur Grundlage meines Handelns zu machen. Das geschieht etwa, wenn eine Studentin es sich zum Ziel setzt, in einem Unterrichtsversuch probeweise einmal ganz auf spieltechnische Anweisungen zu verzichten, um alle instrumentalen Handlungen, die sie und ihre Schülerin ausführen, im Modus des Musizierens zu realisieren. Die „Brille“, mit der sie an diese Stunde herangeht, kann zwar auf durchaus komplexen theoretischen Erwägungen beruhen, d och in dem Moment, in dem sie sich der Stunde aus dieser Perspektive nähert, sieht sie nicht die Begründungen, sondern allein die Situation, die daraus entsteht. Wer durch eine Brille schaut, sieht mit ihrer Hilfe („knowing with“) die Welt – und gerade nicht die Brille.
Die Aufgabe einer hochschulischen Instrumentalpädagogik wäre es demnach, Räume zu eröffnen, in denen möglichst viele dieser Brillen theoretisch entworfen, aufgesetzt, experimentell erprobt und beurteilt werden können. In diesem Zuge wäre sie der späteren Berufspraxis des Instrumental- und Gesangsunterrichts weder unterlegen (da zu wenig „praxisorientiert“) noch überlegen (das wäre der Fall, wenn sie sich dem größenwahnsinnigen Anspruch stellen würde, die Praxis gelungenen Instrumental- und Gesangsunterrichts theoretisch explizieren und simulieren zu können).
Hochschulische Instrumentalpädagogik wäre vielmehr als eine eigenständige Praxisform zu begreifen, die nicht gezwungen ist, eine außerhalb der Hochschule stattfindende Praxis mehr oder minder schlecht nachzuahmen: Sie ist eine Praxis des Neugierig-Seins und des Experimentierens, des präzisen Denkens und begründeten Argumentierens sowie nicht zuletzt des spielerisch-improvisatorischen Handelns.
1 Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985.
2 Der Begriff des „knowing with“ geht auf den amerikanischen Erziehungswissenschaftler Harry Broudy zurück („On knowing with“, in: Philosophy of Education 1970, S. 89-103). Er bezeichnet ein Motiv, das unter anderen Bezeichnungen auch in der Wissenschaftstheorie (etwa bei Ludwig Fleck oder Thomas Kuhn) eine wichtige Rolle spielt; vgl. hierzu auch: Georg Hans Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis, Münster 42020, S. 307-314.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2020.