© Matka_Wariatka_Fotolia

Bossen, Anja

Durch Musik zur Sprache?

Musizieren im Kontext sprachlicher Entwicklung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2017 , Seite 12

Während Transfereffekte musikalischer Aktivitäten auf Intelligenz, Sozzialkompetenz, Persönlichkeitsentwciklung und schulische Leistungen im musikpädagogischen Diskurs mittlerweile in zahlreichen Studien untersucht wurden, rükt im Kontext aktueller Bildungsbemühungen um mehr Chancengerechtigkeit und Partizipation ein bisher weitaus weniger beachteter Transferbereich in den Fokus der Musikpädagogik: der Einfluss musikalischer Aktivität auf sprachliche Fähigkeiten.

Sprache als Schlüssel zu Integration und Partizipation spielt in einer wachsenden Zahl von musikpädagogischen Projekten eine Rolle, in denen neben der Förderung musikbezogener und sozialer Kompetenzen explizit die Förderung der Sprachkompetenz durch das Me­dium Musik im Mittelpunkt steht. Doch auch in anderen Domänen wie der Sprachheilpädagogik und der Didaktik „Deutsch als Fremdsprache“ bzw. „Deutsch als Zweit­sprache“ hat die Arbeit mit Musik seit Jahren einen hohen Stellenwert. Dies ist vor allem auf die Parallelen zwi­schen den Systemen Sprache und Musik zurückzuführen, die Musik als Medium für die Förderung der Sprachkompetenz besonders fruchtbar erscheinen lassen.

Parallelen zwischen Musik und Sprache

Musik und Sprache sind die beiden der menschlichen Spezies zur Verfügung stehenden lautlichen Kommunikationssysteme. Die Parallelen und Unterschiede beider Systeme sind seit Jahren Gegenstand zahlreicher Abhandlungen in verschiedenen Forschungsdisziplinen: der Musikwissenschaft, der Linguistik, der Heilpädagogik und der Neurowissenschaft ebenso wie der Kogni­tionspsychologie, der Sprach- und Stimmheilkunde und der Kommunikationswissenschaft.
Bereits auf der begrifflichen Ebene werden Parallelen zwischen Musik und Sprache deutlich, z. B. durch Begriffe wie Melodie, Tonhöhe, Tempo, Rhythmus, Pause, Klangfarbe oder Betonung, die in der Sprachwissenschaft als „prosodische Sprachmerkmale“ zusammengefasst werden und die sowohl in der Sprache als auch in der Musik ähnliche Phänomene beschreiben. Auch die Begriffe Semantik, Pragmatik oder Grammatik lassen sich auf beide Systeme anwenden: Musik und Sprache passen jeweils in ein System, aufgrund dessen „richtig“ gesprochen oder musiziert wird (Grammatik); beide haben gedachte, gefühlte oder gewollte Bedeutungen (Semantik); Musik und Sprache richten sich an Empfänger und haben Aufforderungscharakter (Pragmatik)1 – und: Musik und Sprache verwenden jeweils ein Zeichensystem (Noten bzw. Buchstaben). Auch bezüglich des akustischen Materials und der kognitiven Verarbeitung gibt es Gemeinsamkeiten (siehe Kasten).2

Obwohl die Lokalisation der Verarbeitung von Musik und Sprache noch nicht völlig geklärt ist, ist mittlerweile belegt, dass einzelne Parameter von Musik und Sprache (z. B. Rhythmus) in denselben Gehirnregionen verarbeitet werden.3 Auch zwischen der musikalischen und sprach­lichen Entwicklung lassen sich Parallelen finden. Bereits Säuglinge können mit etwa fünf Monaten ihre Muttersprache von anderen Sprachen mit gleicher rhyth­mischer Struktur unterscheiden. Eine ähnliche Unterscheidungsfähigkeit im Säuglingsalter lässt sich auch für Tonsysteme feststellen: So bevorzugen Säuglinge bereits mit wenigen Monaten das sie umgebende Tonsystem, indem sie konsonanten Intervallen und Akkorden mehr Aufmerksamkeit schenken als dissonanten; wohingegen Neugeborene noch keine Präferenz zei­gen.4
Aufgrund dieser Parallelen in Struktur, Entwicklung und Verarbeitung von Musik und Sprache ist es nicht erstaunlich, dass die Musikwissenschaft sich vielfach mit der bis heute allerdings nicht geklärten Frage auseinandersetzt, ob Musik eine Sprache sei,5 und dass sich umgekehrt die Spracherwerbsforschung mit der Frage befasst, ob Sprache zumindest in den ersten Lebensjahren als eine Art Musik erworben werde, da den prosodischen Sprachmerkmalen hierbei eine herausragende Funktion zukommt.6
Die Annahme, dass musikalische Aktivität positiv auf sprachliche Fähigkeiten einwirken kann, ist aufgrund der zahlreichen Parallelen zwischen den beiden Systemen also äußerst naheliegend und dient neben dem aus kognitionspsychologischer Perspektive argumentativ an­­geführten motivationsfördernden Potenzial als Begründung dafür, Musik als Medium zur Förderung sprach­licher Kompetenzen zu nutzen. In der Musikalischen Früh­erziehung und Rhythmik ist die Verbindung von Musik, Sprache und Bewegung längst selbstverständlich und wird zur Förderung der Sprachkompetenz auch bewusst genutzt, entweder präventiv für alle Kinder oder kurativ in speziellen musikorientierten Förderprogrammen für Kinder mit diagnostiziertem Sprachförderbedarf.7

Fördert Musizieren sprachliche Fähigkeiten?

Insgesamt liegen nur wenige Forschungs­ergebnisse zu den Effekten musikalischer Aktivität auf sprachliche Fähigkeiten aus musikorientierten Sprachförderprogrammen vor, die zudem aufgrund der sehr unterschied­lichen Zielgruppen, des Forschungsdesigns, der Inhalte der Förderprogramme, der Zahl der Probanden und der untersuchten sprachlichen Fähigkeiten kaum miteinander vergleichbar sind. Aber auch außerhalb spezieller musik­orientierter Interventionsmaßnahmen verweisen einige Studien auf einen Zusammenhang von sprachlichen und musikalischen Fähigkeiten. Dabei bestehen zwischen den Studien bezüglich dessen, was als musikalische ­Aktivität betrachtet wird, allerdings erhebliche Unterschiede. So fallen darunter Singen, Bewegung, Tanz oder Inst­rumentalspiel als einzelne oder kombinierte Akti­vitäten.

1 vgl. Franz Amrhein: „Sprachförderung im Musikunterricht“, in: Volker Schütz (Hg.): Musikunterricht heute. Beiträge zur Praxis und Theorie, Oldershausen 1996, S. 40 ff.
2 Eckart Altenmüller: „Unterschiede und Gemeinsamkeiten der zereb­ralen Organisation von Musik- und Sprachwahrnehmung“, in: Johannes Pahn u. a. (Hg.): Sprache und Musik. Beiträge der 71. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprach- und Stimmheilkunde e. V. Berlin, 12. – 13. März 1999, Stuttgart 2000, S. 25.
3 vgl. Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart 2002, S. 197 ff.
4 vgl. Stephan Sallat: Musikalische Fähigkeiten im ­Fokus von Sprachentwicklung und Sprachentwicklungsstörungen, Idstein 2008, S. 12 f.
5 Eine ausführliche Diskussion zu den Beziehungen zwischen Sprache und Musik aus musikwissenschaftlicher Perspektive findet sich z. B. bei Albrecht Riethmüller: Sprache und Musik. Perspektiven einer Beziehung, ­Laaber 1999.
6 vgl. hierzu Simone Falk: Musik und Sprachprosodie. Kindgerichtetes Singen im frühen Spracherwerb, Berlin 2009.
7 vgl. zur Sprachförderung in der Rhythmik Sabine ­Hirler: Sprach­förderung durch Rhythmus und Musik, ­Freiburg 2009.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2017.