Erkin, Ulvi Cemal
Duyuslar. 11 Klavierstücke / Sonate / Six Preludes für Klavier
Der türkische Komponist Ulvi Cemal Erkin wurde 1906 in Istanbul geboren, studierte am Pariser Konservatorium und an der École Normale de Musique in Paris Klavier und Komposition, u. a. bei Nadia Boulanger und Isidor Philippe, und war dann ab seinem 24. Lebensjahr in Ankara als Professor am dortigen Konservarorium tätig, wo er am 15. September 1972 verstarb. Der Schott-Verlag hat nun drei ganz unterschiedliche Klavierhefte von Erkin herausgegeben, die einen guten Einblick in seine Klangsprache geben.
Duyus¸lar ist eine Sammlung von elf Impressionen in mittlerem Schwierigkeitsgrad. Fünf- und Siebenachteltakte und eine der anatolischen Volksmusik entlehnte Tonsprache ergeben ein vielfältiges, interessantes Klangbild. „Saka/The Joke“ erinnert mit seinem Quartgestus an Bartóks bulgarische Rhythmen, „Zeybek Air“ hat einen festlichen Charakter und ist mit seinem vollgriffigen Akkordsatz (Dorisch mit Phrygisch kombiniert) und seinem zusammengesetzten Metrum (der 9/8-Takt ist in Vierer-und Fünfergruppen unterteilt) ein klanglich sehr ansprechendes Charakterbild. Besonders stimmungsvoll ist der einfach zu spielende „Kücuk coban/The Little Shepherd“ mit den improvisatorischen Umspielungen des ostinaten Tones fis, senza misura notiert.
Die etwa 15-minütige Sonate, 1948 in Ankara uraufgeführt, wendet sich an Studierende oder professionelle KlavierspielerInnen. Polymodale Mischskalen prägen das Klangbild des ersten Satzes. Dem Bewegungsdrang des ersten Themas (wieder Dorisch mit zusätzlicher phrygischer Sekunde) ist ein lyrisches, volkstümliches zweites Thema entgegengestellt. Beide Themen werden anschließend sehr fantasievoll und geschickt miteinander verwoben. Leider enthält der Satz Druckfehler: In den Takten 72-75 fehlen auf der jeweiligen ersten Zählzeit bei der obersten Stimme die Bs und zwischen Takt 142/143 zwei Ligaturbögen. Der ruhige zweite Satz hat in seiner Mitte ein von trommelartigen Nonen des Basses begleitetes ausdrucksvolles Rezitativ. Der vollgriffige dritte Satz (in Takt 30 fehlt ein B-Vorzeichen im Bass für den Ton es) mit vielen Quint- und Quartparallelen lässt an ein anatolisches Volksfest denken.
Die Six Preludes, 1963 bei Radio Ankara uraufgeführt, sind avancierter in der Tonsprache. Melodielinien aus fallenden kleinen Sekunden und viele große Septimen führen im ersten Prelude zu einem bizarren, faszinierenden Klangbild. Das sechste Prelude ist mit seiner geballten martialischen Akkordik und den zusammengesetzten Metren wie eine Homage an Strawinskys Sacre du Printemps.
Erkins Klaviermusik ist eine lohnenswerte Endeckung. Sein unbekümmerter, aber handwerklich guter Kompositionsstil und die Kombination mit der Folklore seines Landes, die seine Harmonik und Rhythmik stark prägt, sind ein gelungener Beitrag zum Kulturaustausch und machen neugierig auf mehr.
Christoph J. Keller