Müller, Alexandra

Ein Musiker braucht Disziplin, aber welche?

Disziplin und ihre Auswirkungen auf den Körper

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 22

Welche Rolle spielt die Disziplin in der Musikerausbildung? Und um welche Art von Disziplin handelt es sich? Gibt es ­verschiedene Arten von Disziplin, auf die der Organismus jeweils ganz unterschiedlich reagiert?

Es geht nicht um Disziplin, sondern um Hingabe.
Nelson Mandela

Marie sitzt im Opernorchester, in dem sie seit zwei Jahren eine Stelle als stellvertre­tende Konzertmeisterin hat. Schon seit drei Stunden läuft Der Rosenkavalier, eine Wiederaufnahme, wenig geprobt. Marie hat starke Rückenschmerzen. Sie macht sich Sorgen, wie sie die restlichen eineinhalb Stunden durchstehen bzw. durchsitzen soll. Die Rü­ckenschmerzen kennt sie schon lange, auch schon in Schul- und Studienzeiten wurde sie davon gequält.
Marie erhält ihren ersten Geigenunterricht mit sechs Jahren. Von klein auf übt sie fleißig und diszipliniert. Von einem zielstrebigen und ehrgeizigen Lehrer wird sie früh zu „Jugend musiziert“ geschickt, das jeweilige Wettbewerbsprogramm wird ein halbes Jahr eingeübt, schwierige Stellen werden hundertfach wiederholt, bis jede Bewegung „sitzt“. Das eher ängstliche Kind steht bei jedem Auftritt unter hohem Druck, es leidet sehr unter Lampenfieber. Die Rückenschmerzen melden sich das erste Mal, als sie
gerade zwölf Jahre alt ist und sich auf den Bundeswettbewerb vorbereitet. Sie übt ­trotzdem weiter, der Lehrer meint, das würde schon wieder vergehen, sie solle möglichst wenig daran denken. So ist es dann auch, ­allerdings tauchen die Schmerzen von da an in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf.
Sie geht zur Physiotherapie, bekommt Übungen, die aber keine Lösung bringen. Mit 19 Jahren dann das Musikstudium bei einer bekannten Geigenprofessorin. Eindeutige Vorgaben, wie Technik, Etüden und Stücke zu üben sind, festgelegte Fingersätze und Striche geben eine klare Struktur. Auch hier bemüht sich Marie, die vorgegebenen Übeanweisungen zu erfüllen, alle Ideen der Professorin umzusetzen. Ihre Technik verbessert sich, sie beherrscht immer schwerere Stücke, allerdings nehmen auch das Lampenfieber und die Rückenschmerzen zu. Die Probespiele am Ende des Studiums geraten zum Martyrium, Betablocker müssen helfen, die Nerven zu beruhigen.
Nach mehreren Versuchen dann der Erfolg: stellvertretende Konzert­meis­terin in einem großen Opernorchester. Im Probejahr ist sie hauptsächlich damit beschäftigt, Noten zu „fressen“, um das große Opernrepertoire zu lernen. Sie übt diszipliniert und ist immer perfekt vorbereitet. Mittlerweile geht sie auf Anraten des konsultierten Orthopäden regelmäßig zur Massage und ins Fitnessstudio. Die Rückenschmerzen werden nur unwesentlich besser.
Nach zwei Jahren Operndienst ist Marie so weit, sich zu fragen, ob sie diesen Beruf tatsächlich ausüben kann. Während des Rosenkavaliers taucht zum ersten Mal der Gedanke auf zu kündigen. Eine Welle von Angst und gleich­zeitig großer Erleichterung durchströmt sie.
So oder so ähnlich lauten die Biografien vieler MusikerInnen, die zu den 76 Prozent (!) gehören, die laut Statistik über ernste, die Musikausübung behindernde Beschwerden klagen.1 Es drängt sich die Frage auf, ob nicht etwas grundsätzlich schiefläuft in der Musikerausbildung. Welche Rolle spielt hierbei die Disziplin? Und um welche Art von Diszip­lin handelt es sich? Gibt es verschiedene Arten von Disziplin, auf die der Organismus jeweils ganz unterschiedlich reagiert? Ist es vielleicht so, dass sich die eine Art negativ auf den Körper auswirkt, die andere aber not­wendig ist, um den Körper nicht zu schädigen?

1 ICSOM-Studie (International Conference of Symphony and Opera Musicians) 1987.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2009.