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Benazzouz, Leila

Eine Brücke aus Gesang

Das Kinderchorprojekt CANTARA eröffnet Perspektiven für neu zugewanderte Kinder

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2018 , musikschule )) DIREKT, Seite 04

Im Kinderchorprojekt CANTARA der Bertelsmann Stiftung singen neu zugewanderte und ansässige Kinder gemeinsam. Durch die Freude am gemeinschaftlichen Singen wird kulturelle Vielfalt für alle positiv erlebbar und ein großer Schritt in Richtung Integration getan.

Viele Diskussionen über die Integration von Menschen mit Fluchtgeschichte kreisen um die kulturellen Unterschiede zwischen Europäern und Menschen aus dem Nahen Osten – der Region, aus der seit ein paar Jahren besonders viele Menschen vor Krieg und Gewalt Zuflucht bei uns suchen. Dabei lohnt es sich, den Blick hinzuwenden auf die Dinge, die allen Menschen gemeinsam sind und uns verbinden.
Musik gilt als universale Sprache. Es gibt Musik, die uns im Innersten berührt, ohne dass Herkunft oder Sprache des Liedes eine Rolle spielen. Insbesondere das Singen ist uns allen in die Wiege gelegt – schon Babys singen, bevor sie sprechen können. Um in anderen Sprachen zu singen, benötigen wir keine ausgewiesenen Sprachkenntnisse. Besonders Kindern fällt es leicht, Wörter über das Gehör wahrzunehmen und nachzuahmen.
Darauf aufbauend initiierte die Bertelsmann Stiftung 2016 das integrative Kinderchorprojekt CANTARA. Der Projektname basiert auf dem lateinischen Wort cantare, ist aber auch im Arabischen vorhanden: cantara ist das arabische Wort für Brücke. Dieses Wort, das sowohl im europäischen als auch im arabischen Sprachraum vorhanden ist und zwei Bedeutungen hat, die sich im Projektkontext ergänzen – „singen“ und „Brücke“ –, bringt zum Ausdruck, was das Projekt erreichen möchte: Das gemein­schaftliche Singen im Chor soll Kindern eine Brücke sein, die ihnen einen Weg in die Mitte unserer Gesellschaft weisen soll.

Projektphase 1: CANTARA in der Schule

Das Projekt CANTARA besteht aus zwei Phasen – einer schulischen und einer außerschulischen. Für das Modellprojekt wur­den mehrere Grundschulen in Gütersloh und Bielefeld ausgewählt, die seit 2015 besonders viele zugewanderte Kinder aufgenommen haben. Eine Chorleiterin geht einmal pro Woche in die Schulen, wobei ein besonderer Fokus auf der interkulturellen Chorarbeit liegt. Die Chorleiterin hat selbst einen arabischen Hintergrund, was die Akzeptanz des Projekts bei vielen Zugewanderten aus dem Nahen Osten erleichtert. Selbstverständlich kann es keine Voraussetzung für CANTARA-ChorleiterInnen sein, selbst über einen Migrationshintergrund zu verfügen. Es empfiehlt sich aber, eine solche Person als Vermittlerin mit einzubeziehen. Im besten Fall verfügt diese Person über musikalische Kenntnisse, die aber nicht zwingend im Chorgesang liegen müssen.
Der Chor steht allen Kindern offen, wobei zumeist Kinder mit Migrationsgeschichte ihren Weg dorthin finden – auch aufgrund gezielter Ermutigung durch die Lehrkräfte an den Schulen. Idealerweise stellt die Schule den ChorleiterInnen eine Lehrkraft zur Seite, die während der Chorprobe und darüber hinaus bei organisatorischen Dingen unterstützend wirkt.

Welches Repertoire singen die Kinder?

Zum Einstieg eignen sich Lieder in einer Quatschsprache wie z. B. das Lied Jimba Papaluschka. Während im Deutschunterricht alles darauf ausgerichtet ist, die Deutschkenntnisse der Kinder zu verbessern, können sie hier ihre Befangenheit und Unsicherheit ablegen. Man kann die Erleichterung der Kinder förmlich in ihren Gesichtern ablesen, wenn sie hören, dass es sich um eine Quatschsprache handelt. Endlich sind sie nicht im Nachteil gegenüber anderen Kindern, sondern können sich ganz der Freude an der Musik hingeben. Um elementares Vokabular wie Farben, Wochentage, Monate etc. zu verfes­tigen, eignen sich Kinderlieder wie Grün, grün, grün sind alle meine Kleider, Laurentia, liebe Laurentia oder Lieder zu Monaten und Jahreszeiten.
Die Lieder werden mit Gesten und Bewegungen begleitet, damit sich die Kinder die Texte besser merken können. Neue Wörter oder Sätze werden ausführlich erklärt und besprochen, sodass die Kinder verstehen, was sie singen. Das alles läuft ohne Noten oder Textzettel ab, deren Lesen nur unnötig Zeit kosten würde.
Einen genauso hohen Stellenwert hat aber auch das Singen von Liedern aus den Herkunftsländern der Kinder. Besonders bewährt hat sich in diesem Zusammenhang die Einbindung der Eltern. So sollten die Kinder für ein Konzert gemeinsam mit ihren Eltern oder Großeltern bekannte Lieder aus der alten Heimat vorschlagen. Eingeschickt werden konnten die Lieder als YouTube-Link per WhatsApp. Diese Lieder wurden dann für einen Kinderchor musikalisch arrangiert und in einem Konzert auf die Bühne gebracht.
Es war erstaunlich, wie viele Eltern sich meldeten und Liedvorschläge machten. So war der Erstkontakt zu den Eltern hergestellt – und zwar auf Augenhöhe: „Wir haben Interesse an Ihrer Kultur und möchten gerne gemeinsam mit Ihren Kindern etwas darüber lernen.“ Dieser Kontakt schafft Vertrauen, was wiederum für eine verbindlichere Unterstützung der Kinder bei der Ausübung ihres Hobbys sorgt – zum Beispiel bei Auftritten, wo die Eltern für die Anwesenheit ihrer Kinder sorgen müssen.

Projektphase 2: Kooperation mit Kinderchören

Wie eingangs erwähnt, findet CANTARA an Schulen statt, wo überdurchschnittlich viele Kinder eine jüngere Migrationsgeschichte haben. Es gibt Schulen, an denen jedes dritte Kind nicht länger als drei Jahre in Deutschland lebt. Das hat natürlich negative Auswirkungen auf die Verbesserung der Deutschkenntnisse – insbesondere im mündlichen Bereich. Die Kinder bleiben unter sich und haben wenig Aussicht auf eine Verbesserung ihrer verbalen Fähigkeiten mangels Kontakte mit deutschsprachigen Kindern. Die ursprünglich angestrebte Begegnung zwischen ansässigen und neu zugewanderten Kindern im Rahmen von CANTARA fand aufgrund der Schülerstruktur an den Schulen nicht statt. Daher entstand die Idee, mit den Kindern aus den Schulen herauszugehen und sie mit den SängerInnen eines bestehenden Kinderchors zusammenzubringen.

Kulturelle Vorbehalte als Hinderungsgrund

Auch wenn sich einige Kinderchöre in den Schulen aktiv um Nachwuchs bemühen, so bleibt doch der Anteil von Kindern mit Migrationsgeschichte in den Chören recht gering. Grund dafür sind häufig der Mangel an Sprachfähigkeit sowie kulturell motivierte Vorbehalte der MigrantInnen. Es erfordert eine hohe transkulturelle Kompetenz und Sensibilität, um Probleme zu vermeiden. Im CANTARA-Modellprojekt in Gütersloh ist die Bertelsmann Stiftung eine Kooperation mit dem Gütersloher Knabenchor und der Gütersloher Choralsingschule für Mädchen eingegangen. Durch das aus der Elternarbeit entstandene Vertrauen und die unkomplizierte wechselseitige Kommunikation via WhatsApp oder Telefon gelingt es, eine Gruppe von Kindern regelmäßig mit der Unterstützung von Ehrenamtlichen zu den Chorproben in die Räumlichkeiten des Knabenchors und der Choralsingschule Gütersloh zu bringen.
Die Probe wird für eine Übergangsphase von ca. drei Monaten gemeinsam von der CANTARA-Chorleiterin und dem Leiter der genannten Kinderchöre geleitet. So haben die Kinder weiterhin ihre vertraute Ansprechpartnerin, während sie sich an die neue Umgebung und den neuen Chorleiter gewöhnen können.
Eine zentrale Rolle in dieser zweiten Projektphase spielen die Ehrenamtlichen, die sich um den Transport der Kinder zur Probe kümmern, solange die Kinder noch zu jung sind, um selbstständig zu kommen, oder deren Eltern nicht so mobil sind. Das Engagement der Ehrenamtlichen schafft wiederum Begegnung – zwischen ihnen und den Kindern sowie deren Eltern.

Über die CANTARA-Brücke in den Kinderchor

Aktuell befindet sich das Projekt in der zweiten Phase, die gemeinsam von beiden ChorleiterInnen gestaltet wird. Diese Phase läuft sehr gut: Die Kinder kommen regelmäßig und haben große Freude in den neuen Räumlichkeiten und an den neuen Impulsen, die sie dort bekommen. Die Herausforderung wird sein, dass die Kinder in der nächsten Phase aus ihrem CANTARA-Chor heraus in den Knabenchor oder die Choralsingschule für Mädchen gehen werden, wo sie dann endlich die ­Begegnung mit anderen Kindern erleben können.
Die CANTARA-Chorleiterin wird sich nach diesem Schritt zurückziehen und wieder neue CANTARA-Chöre an den Schulen leiten, um auch anderen Kindern den Übergang in einen lokalen Chor zu ermöglichen. Unterstützen die ehrenamtlich Engagierten den Transport der Kinder und gelingt es der Chorleitung, den Draht zu den Eltern aufrechtzuerhalten, sollte der Integration der Kinder in die Chöre nichts entgegenstehen. Erweist sich dieses Vorhaben als schwierig, so sollte man dennoch nicht unterschätzen, was während des Halb­jahrs im CANTARA-Chor an den Schulen und der dreimonatigen Phase beim Knabenchor und der Choralsingschule an Impulsen gesetzt werden konnten. Für die Kinder ist eine erste Brücke zu kultureller und sozialer Teilhabe in unsere Gesellschaft geschlagen, der hoffentlich noch viele weitere folgen werden.

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