Stiller, Barbara
Eine Frage der Perspektive
Elementare Musikpädagogik kunstübergreifend unterrichten
Wann ist etwas Künstlerisches kunstübergreifend, wann sind künstlerische Handlungen kunstübergreifend, gibt es auch kunstübergreifende Künstlerinnen und Künstler in Personalunion? Diese Fragen treffen ins Herz der Elementaren Musikpädagogik (EMP), die mit größter Selbstverständlichkeit verschiedene Ausdrucksformen kombiniert und daraus methodische Vielfalt schöpft.
In der musikpädagogischen Fachliteratur ist der Begriff „kunstübergreifend“ nicht definiert. Auch ein kunstpädagogisches Lexikon erwähnt den Begriff als lexikalischen Terminus nicht. Vielmehr spricht es von Interdisziplinarität und Intermedialität sowie mit Bezug zu transkulturellem Handeln auch von Transdisziplinarität.1 Ein flüchtiger Blick in deutschsprachige Kunstmagazine lässt vermuten, dass „kunstübergreifend“ überwiegend fachjournalistisch dann Verwendung findet, wenn Aspekte, die generell viele Künste betreffen können oder generalisierend als Phänomene für mehrere Künste gelten, Erwähnung finden sollen.
Für den folgenden Text soll definitorisch davon ausgegangen werden, dass ein kunstübergreifender Ansatz verschiedene künstlerische Disziplinen verbindet und damit neue Formen kreativer Ausdrucksweisen schafft, unabhängig davon, ob als künstlerische Aktivität in Auftrittssituationen oder als Impuls bzw. Thema in fächerübergreifenden Unterrichtskontexten. Etwas ist kunstübergreifend, wenn es über vermeintliche Grenzen einzelner Künste, Genres, Stilrichtungen, Strömungen, Traditionen u. a. hinausgeht, diese verwischt, bewusst überschreitet oder auch interdisziplinär durchdringt.
Interdisziplinäre Kunst steht im Folgenden als Oberbegriff für etwas, das die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen verschiedenen künstlerischen Disziplinen bzw. die Kooperation mehrerer Künstlerinnen und Künstler unterstreicht. Begriffe, die solch offene, inter- oder transdisziplinäre Kunstformen beschreiben, werden beispielsweise als multimediale Kunst, transmediale Kunst, hybride Kunst o. Ä. bezeichnet.2 Sie betonen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte bezüglich verschiedener Medien und Disziplinen in ihren künstlerischen Arbeiten, werden aber nicht trennscharf verwendet. Je nach Region und Kontext können die Präferenzen für den Gebrauch der genannten Begrifflichkeiten individuell variieren. Arbeiten mehrere Künstlerinnen und Künstler als feste Teams künste-übergreifend zusammen, indem sie Ideen, Techniken, Ressourcen u. Ä. teilen oder zusammenfügen, bilden sie gegebenenfalls ein sogenanntes Künstler-Kollektiv.
Was kann in der EMP als kunstübergreifend betrachtet werden?
Die Elementare Musikpädagogik verbindet qua Fachverständnis nahezu selbstverständlich verschiedene Ausdrucksformen miteinander. Insofern versteht sie sich per se und seit jeher im weitesten Sinne als kunstübergreifend, auch wenn niemand dies in einschlägigen Publikationen im Wortsinn so bezeichnet. Unabhängig davon hat in der noch recht jungen Geschichte der EMP auf der Ebene von Forschung und Theoriebildung bislang ohnehin nur eine geringe Auseinandersetzung mit dem vermeintlich eigenen Kunst- und Musikverständnis der EMP stattgefunden. Auf der methodisch-didaktischen Ebene hingegen liegt der EMP ein einschlägiges Handlungsverständnis zugrunde, das die Bedeutung und das kreative Zusammenspiel verschiedener Aktivierungsmodi wie Exploration, Improvisation, Interpretation, Komposition, Gestaltung u. a. betont.3
Vielfach werden mit Bezug auf das vermeintlich Kunstübergreifende der EMP Carl Orffs bekannte Sätze zitiert: „Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man tun muss, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist. Sie ist vorgeistig, kennt keine große Form, keine Architektonik, sie bringt kleine Reihenformen, Ostinati und kleine Rondoformen. Elementare Musik ist erdnah, naturhaft, körperlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß.“4 Orff betont das Naturhafte der Musik als durchlässige Verbindung zu verschiedenen Ausdrucksformen als ein spezifisch musikalisches Konzept, das Bewegung, Klang und Sprache miteinander verbindet, um Menschen unterschiedlichen Alters ganzheitliche musikalische Erfahrungen zu ermöglichen. Michael Kugler weist Orff mit diesem Zitat eine Nähe zur Ästhetik des Expressionismus zu.5 Später ergänzt Orff seine Aussage selbst um „Elementare Musik drängt zur Darstellung, zum Theater“, belässt es dabei aber bei dem Verb „drängt zu“.6
Denkt man heute aus der Perspektive des oben beschriebenen kunstübergreifenden Agierens nach über verschiedene EMP-spezifische Umgangsweisen mit Musik wie Singen, Spielen auf Instrumenten, Bewegen zu Musik, Hören von Musik, Nachdenken über Musik und Ausdenken von Musik,7 so fällt auf, dass die Musik, insbesondere dann, wenn sie „keine große Form, keine Architektonik“ (Orff) kennt, in einem engeren Sinne nicht zwingend als kunstübergreifend wahrgenommen werden muss. Über die zuvor genannten Aktivitäten hinaus weist die Fachliteratur jedoch auch auf das „Verbinden von Musik mit anderen Ausdrucksformen“ hin,8 welches eine gewisse Sonderstellung unter den Umgangsweisen der EMP einnimmt. Gemeint ist, dass Elementare MusikpädagogInnen, die damit vertraut sind, musikalische Prozesse im Zusammenspiel von Instrumentalspiel, Stimme, Sprache, Gesang, Bewegung, Darstellung und Szene zu kreieren und zu gestalten, womöglich auch Querverbindungen zu außermusikalischen Werken anderer Künste wie Schauspiel, visuelle Künste, Skulptur, Bildhauerei, Literatur, darstellende Künste, (digitale) Medienkunst, Performance etc. herstellen und damit durchaus kunstübergreifende Wechselwirkungen erzielen.
Dass die EMP dabei für sich die spezifische Bedeutung einer besonders vielschichtigen musikalischen Bildung beansprucht, welche über die verschiedenen Umgangsweisen und Aktivierungsmodi hinaus auch die unterschiedlichen Dimensionen des Musizierens unter emotionalen, kognitiven, motorischen und sozialen Aspekten in einer im Optimalfall inklusiven Lernumgebung einbezieht, kann zu zunehmender Komplexität, aber auch zu Unübersichtlichkeit bei der genaueren Betrachtung eines kunstübergreifenden Handelns in der EMP führen.
Infolgedessen stellt sich die Frage, ob eine Elementare Musikpädagogin oder ein Elementarer Musikpädagoge qua Ausbildung nahezu automatisch über eine kunstübergreifende Expertise verfügt. Die Antwort muss wohl im besten Sinne „jein“ lauten. Eindeutig ja, weil EMPlerInnen bereits mit der Aufnahme des Studiums über Doppelqualifikationen zwischen Instrument oder Gesang auf der einen und bewegungs- und improvisationsorientierten Fähigkeiten auf der anderen Seite verfügen müssen. Möglicherweise aber auch recht eindeutig nein, weil man mit einem Studium der EMP in der Regel keine Doppelqualifikation für andere Künste und deren Didaktiken jenseits der Musik erwirbt.
1 Bering, Kunibert/Niehoff, Rolf/Pauls, Karina (Hg.): Lexikon der Kunstpädagogik, Oberhausen 2017, S. 236-239.
2 ebd.
3 Beidinger, Werner/Dartsch, Michael: „Aktivierungskette“, in: Dartsch, Michael/Meyer, Claudia/Stiller, Barbara (Hg.): EMP kompakt, Band 1, Lexikon, Esslingen 2020, S. 5-8.
4 Orff, Carl: „Das Schulwerk. Rückblick und Ausblick“, in: Werner, Thomas/Götze, Willibald (Hg.): Orff-Institut-Jahrbuch 1963, Mainz 1964, S. 13-20.
5 Kugler, Michael: „Elementare Musik“, https://orff-schulwerk.de/lexikon/elementare-musik (Stand: 10.5.2024).
6 Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik, Tutzing 1976, S. 263.
7 Dartsch, Michael: „Grundlagen der Arbeit in der frühen musikalischen Bildung“, in: Verband deutscher Musikschulen (Hg.): Bildungsplan Musik. Fachliche Fundierung, Settings und Querschnittsthemen früher musikalischer Bildung in und mit der Musikschule, Bonn (im Druck, erscheint 2024).
8 ebd.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2024.