Gaggero, Luigi
Eine natürliche Geste
Praktische Überlegungen zum Dirigieren und Gedanken zur Musik
Der Untertitel führt in die Irre, denn schon in der Einleitung dieses recht schmalen Bandes des Zymbalspielers, Schlagzeugers und Dirigenten Luigi Gaggero erfährt man, dass es ihm um das Dirigieren im praktischen Sinne gar nicht geht, sondern vielmehr darum, die „unsichtbaren Prozesse zu untersuchen, die die eigentliche Voraussetzung und Ursache für die Gesten eines Dirigenten darstellen“. Und nach der Gesamtlektüre (die sich ob des vielen Leerraums auf den Seiten rasch erledigen lässt) ist klar, dass die „praktischen Überlegungen“ entschieden hinter den sehr frei schweifenden „Gedanken zur Musik“ zurückstehen.
Das Problem ist, dass unsichtbare Prozesse eben nicht sichtbar sind und sich somit einem rein betrachtenden Zugriff entziehen. Eine wissenschaftliche Beschäftigung findet man hier nicht. Vielmehr teilt der Autor in 14 kurzen Kapiteln vor allem Gedanken zu Interpreten, diversen Aspekten des Musizierens und Dirgierens mit seinen LeserInnen: etwa zum (liebevollen) Zuhören, zur Unterscheidung zwischen dem Mächtigen und dem Humanistischen Dirigenten (personifiziert in Scherchen und Harnoncourt), zur Prosodie, zur Repertoirewahl oder zum Partiturstudium.
Das ist oft wirklich poetisch, zugegeben, aber zu häufig gleitet der Autor auch ins Esoterische ab, verfällt in schwärmerisches Assoziieren oder wirkt uneindeutig bis verwirrt, wenn er beispielsweise zwei Aufführungen vergleichen möchte, von denen dann nur eine genannt wird. Darüber hinaus äußert er im Brustton der Überzeugung persönliche Ansichten, die er aber insofern als Fakten darstellt, als er bei einzelnen Aussagen ein „unserer persönlichen Meinung nach“ im Pluralis Majestatis dazwischenschiebt.
Dennoch: Sicherlich kann jeder, der sich mit Musik und ihrer Interpration beschäftigt, den einen oder anderen Aspekt in diesem Band finden, der ihn zum Nachdenken, zur vertieften Beschäftigung anregt, wenn er sich darauf einlassen möchte. Irritierend sind allerdings die unzähligen zur besonderen Betonung kursiv gesetzten Worte, die fast jeden Satz durchziehen. Das nervt beim Lesen und man fühlt sich ein wenig bevormundet, wenn man von vorneherein als unfähig zu der Entscheidung eingestuft wird, welches Wort in einem Satz wichtig ist. Wünscht sich der Autor nicht selbstdenkende MusikerInnen im Orchester – und kundige LeserInnen?
All dies ist schade, denn in einem immerhin 15 Seiten umfassenden Kapitel gegen Ende des Buchs, das sich tatsächlich den praktischen Tipps zum Dirigieren widmet, zeigt Gaggero, dass er durchaus zu strukturiertem Denken und Schreiben in der Lage ist und jungen DirigentInnen wertvolle Hilfen geben kann.
Andrea Braun