Mahlert, Ulrich

Eine transkulturelle Musik

Was ist und wie spielt man klassische Musik?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2010 , Seite 06

Klassik – „gesund, maßvoll, objektiv“? Welche Vorstellungen von klassischer Musik haben wir? Was ist das Klassische an klassischer Musik? Worin liegen die Besonderheiten und die Herausforderungen klassischer Musik?

Einige persönliche Erfahrungen

1. In den Anforderungen für Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen wird in der Regel ein Werk der Klassik gefordert. Gemeint ist das Repertoire der Wiener Klassik, also die Musik von und um Haydn, Mozart und Beethoven. An der Universität der Künste Berlin, an der ich unterrichte, gehört zur Aufnahmeprüfung für den Studiengang „Päda­gogische Ausbildung Musik“ zusammen mit der Hauptfachprüfung auch ein Gespräch über interpretatorische und pädagogische Fragen. Die Kommission möchte sehen, ob eine Bewerberin imstande ist, musikalische Sachverhalte nachvollziehbar und deutlich zu verbalisieren. Wer unterrichten will, braucht diese Fähigkeit.
Ein solches Gespräch beginnt etwa folgendermaßen: „Können Sie uns etwas sagen zu dem Mozart-Konzert, das Sie gerade gespielt haben?“ „Das ist ein Werk der Klassik.“ „Da haben Sie Recht. Was sind denn für Sie die Besonderheiten von klassischer Musik?“ Diese Frage löst meist ein Stirnrunzeln aus, manchmal auch Unmut oder gar Verständnislosigkeit. Ich probiere es nochmal mit anderen Worten, um der Bewerberin etwas Zeit zum Nachdenken zu geben. Sie überlegt: „Klassik – na ja, das ist doch klar, das kommt nach Barock und vor der Romantik.“ Eine plausible Antwort, mit der ich mich aber noch nicht zufriedengebe. Die Bewerberin antwortet mit einer Aussage über Klassik als Epochenbegriff, ich hatte meine Frage aber auf den Stilbegriff bezogen. Also hake ich noch mal nach. „Ich wüsste noch gern von Ihnen, was denn typische Eigenschaften von klassischer Musik sind. Was wäre Ihnen da besonders wichtig?“
Nun kommen bemerkenswerte Antworten. Ich stelle aus der Erinnerung eine kleine Blütenlese zusammen:
„Klassik, da ist alles ganz klar, ganz einfach.“ „ – ?“ „Melodie und Begleitung.“
„Viele Figuren. Bestimmte Spielfiguren sind typisch für klassische Musik. Tonleitern und Albertibässe und so.“
„Klassik ist objektiv. Nicht so subjektiv wie Romantik. Nicht so schwärmerisch. Viel strenger.“
„Bei klassischer Musik muss man sich voll unter Kontrolle haben. Da kann man nichts vertuschen. Mozart ist gnadenlos.“
„Klassik ist meist eher heiter. Heiter und spielerisch. Jedenfalls immer ausgeglichen, keine starken Extreme.“
„Vorher gab’s polyfone Musik. Fugen sind typisch für Barock. Die gibt’s in der Klassik nicht mehr. Sonaten sind typisch für klassische Musik.“
Solche und ähnliche Antworten habe ich oft gehört. Manchmal werde ich von Kollegen für meine Frage nach Eigenarten klassischer Musik und für mein Nachbohren bei besonders merkwürdigen Antworten kritisiert. Die Frage sei zu schwer. Darauf könne man am Beginn eines Studiums noch nicht befriedigend antworten. Sie haben Recht: Die Frage ist wirklich schwer. Jedenfalls gelingt es nicht so leicht, sie kurz und bündig zu beantworten. Ich frage aber trotzdem immer wieder, weil mich die Antworten interessieren. Und ganz und gar falsch sind die meisten von ihnen ja nicht. Aber die Summe der Antworten ergibt doch ein sehr dürftiges und blasses Bild von klassischer Musik. Vielleicht hat Joachim Kaiser Recht, wenn er schreibt: „Mit dem Wort ‚klassisch‘ verknüpfen sich seit dem späten 19. Jahrhundert in Deutschland viele ausgesprochen lustlose Assoziationen: Gesund, maßvoll, objektiv – und was es sonst noch alles für bedeutungsträchtige Erläuterungen des Klassischen geben mag, die meist doch nur gähnende Langeweile vornehm umschreiben.“1

„Was sind für Sie die Besonderheiten von klassischer Musik?“ – „Klassik – na ja, das kommt nach Barock und vor der Romantik.“

2. Das Repertoire klassischer Musik ist nicht eben schmal. Gerade mit den Werken von Haydn, Mozart und Beethoven tut sich ein schier unübersehbar weites und reiches Feld auf. Zahlreiche Gattungen und mit ihnen verknüpfte musikalische Lebenswelten, durchweg höchst individuelle Kompositionen, eine enorme Fülle von musikalischen Botschaften, Stilarten, Idiomen, Charakteren, Atmosphären, Dramaturgien, Formprozessen – all das macht die Musik der Wiener Klassik aus. Die allermeisten Werke liegen in vorzüglichen Ausgaben und in exzellenten, häufig zahlreichen Einspielungen vor. Und doch: Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass Studierende und Schüler, teilweise auch Lehrer, nur einen sehr begrenzten Ausschnitt – meist noch eingeschränkt auf Werke des eigenen Instruments – aus dem klassischen Repertoire kennen.
Es ist keine Seltenheit, dass Klavierstudenten von Beethovens 32 Sonaten (nach Hans von Bülow das „Neue Testament“ der Klaviermusik) nur eine Handvoll jemals gehört haben. Bei Aufnahmeprüfungen, sei es bei Streichern, Bläsern oder Pianisten, erlebt man stets aufs Neue dieselben paar Stücke und fragt sich, warum Lehrer ihren Schülern keine intelligentere Literaturwahl empfehlen. Zunehmend ist das Bild von klassischer Musik auf enge Weise definiert durch einige Paradestücke, hinter deren unentwegter Reproduktion der Reichtum des Repertoires verschwindet.
Klassische Musik lädt ein zu unabsehbaren Erkundungen und Entdeckungen, aber die Einladung wird nicht angenommen. Statt ins Freie zu gehen und sich Unbekanntes zu erschließen, bleibt man lieber im kleinen vertrauten Gärtchen und hegt, überwässert und überdüngt dort Jahr für Jahr die gleichen paar Gewächse. So wie die Physiognomien der Komponisten wird auch das sich verengende Repertoire von einer „klassischen“ Gipsbüs­tenstarre heimgesucht.
3. Vor drei Jahren war ich Jurymitglied beim nationalen chinesischen Klavierwettbewerb, den die Firma Kawai in Xiamen für chinesische Pianistinnen und Pianisten hauptsächlich im Schulalter ausgerichtet hatte. Viele hochmotivierte, mit großer Liebe, mit Intensität, Hingabe und beeindruckender körperlicher Geschmeidigkeit musizierende Kinder und Jugendliche in verschiedenen Altersstufen stellten ihr Können unter Beweis. Zu Höchstform liefen die meisten Spieler bei romantischer Virtuosenmusik auf, darunter vielen Werken, die hierzulande eher als „schlech­tes 19. Jahrhundert“ gelten: Ungarische Rhap­sodien und Opernparaphrasen von Liszt etwa gab es haufenweise zu hören. Die sportiven Bravourleistungen, die die Musiker hier souverän erbrachten, sind an deutschen Musikschulen eher selten zu erleben.

1 Joachim Kaiser: Beethovens 32 Klaviersonaten und ­ihre Interpreten, Frankfurt am Main 1979, S. 289.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2010.