Deserno, Katharina

„Eine Violoncellistin… dieß fehlte noch!“

Über weibliche und männliche Instrumente

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2009 , Seite 51

Wie kaum ein anderes Instrument hat das Cello einen Bedeutungs­wan­del von einem „Männer­instrument“ hin zu einem von beiden Geschlech­tern gespielten, populären Instru­ment durchlaufen. Heutzutage ist das Bild einer Cello ­spielenden Frau präsent und selbstverständlich, ­vielleicht steht es sogar für eine „weibliche“ Ästhetik. Ende des 19. Jahrhunderts wurde dagegen noch von „ver­einzelten Orgel- und Violon­cellospielerinnen und was der befremdlichen Gestalten mehr sind, die hin und wieder im weiten Ton­reich auf Abenteuer ausgegangen“ seien, gesprochen.

Was Cellistinnen betrifft, sind die Berliner Philharmoniker heute zum Glück anderer Meinung, stellten sie doch gerade dieses Jahr die erste Cellistin, Solène Kermarrec, fest ein. Auch auf den Bühnen der Welt sind zahlreiche junge, erfolgreiche Cellistinnen zu hören, man denke an Sol Gabetta, Han-Na Chang, Wendy Warner, Tatjana Vassilieva und Marie-Elisabeth Hecker. Aus der vorhergehenden Generation wurden Cellistinnen Professorinnen an renommierten Musikhochschulen und international anerkannte Künstlerinnen, so z. B. Natalia Gutmann, Maria Kliegel und Karine Georgian. Und ist Jaque­line du Pré nicht der Inbegriff mitreißenden Cellospiels, eine überragende Größe, Vorbild für viele Cellistinnen und Cellisten?
Mit Jaqueline du Pré sind wir in den 1960er Jahren angelangt. An die Cellistinnen vor du Pré erinnert man sich eher selten. Vielleicht an Zara Nelsova (1918-2002), die bis kurz vor ihrem Tod 2002 an der Juilliard School in New York lehrte und eine beeindruckende Bühnenpersönlichkeit war; vielleicht an Guilhermina Suggia (1885-1950), deren Porträt in der Londoner Tate Gallery zu sehen ist, eventuell an Beatrice Harrison (1892-1965), die
in enger Zusammenarbeit mit Edward Elgar dessen Cellokonzert aufführte und auf­nahm.2
Da gab es auch noch May Mukle (1880-1963), die der Musikschriftsteller Max Kalbeck einen „weiblichen Casals“ nannte.3 Aus der Mitte und vom Beginn des 20. Jahrhunderts wären u. a. Eva Janzer, Angelica May, Amaryllis Fleming, Raya Garbousova, Florence Hooton, Antonia Butler und Thelma Reiss zu nennen. Dieser Teil einer Geschichte der Cellistinnen liegt schon eher im Dunkel der Rezeption, dann reißt diese Geschichte völlig ab. Womit hat das zu tun?
„Eine Violoncellistin […] dieß fehlte noch!“, schrieb die Allgemeine Wiener Musikzeitung 1844 über Lisa Cristiani, die erste Frau, die als Cellistin öffentlich auftrat. Das ist gerade etwas mehr als 150 Jahre her. Der Pfarrer, Philologe und Komponist Carl Ludwig Junker publizierte anonym 1783 eine Abhandlung über für Frauen „unschickliche“ Instrumente wie Geige, Cello, Flöte, Klarinette, Schlagzeug und alle Blechblasinstrumente.4 Darin führte er vor allem „schnelle, heftige, gewaltsame und rasche Bewegungen“ an, die sich mit der „anerkannten Schwäche des zweyten Geschlechts“ nicht vertrügen.5 Zudem fand er die Kombination aus der Mode, die für Frauen üblich war, und den genannten Inst­rumenten schlicht „lächerlich“.6
Die beim Cellospielen erforderliche Haltung galt als besonders „unschicklich“ für Frauen. Außerdem wurden die Größe des Instruments und der tiefe Klang mit männlichen Eigenschaften assoziiert. Noch bis ins 19. Jahrhundert spielten viele Cellisten ohne Stachel, obwohl dieser bereits im 17. Jahrhundert erfunden worden war. Das stellte ein weiteres Hindernis für Cello spielende Frauen dar, da ohne Stachel das Instrument auf jeden Fall zwischen den Beinen gehalten werden musste und noch dazu eine gebeugte, „unelegante“ Haltung erforderlich war. Die Erfindung des Stachels ermöglichte das Spielen in einer Art „Damensitz“, mit dem rechten Bein über das linke geschlagen oder mit beiden Knien hinter dem Cello.7
Lisa Cristiani lebte ein für das 19. Jahrhundert ganz untypisches Frauenleben. Sie unternahm Konzerttourneen durch ganz Europa bis nach Sibirien und konnte von ihren Einnahmen als Künstlerin nicht nur selbstständig leben, sondern auch ein Stradivari-Cello erwerben. Felix Mendelssohn widmete ihr ein häufig gespieltes Lied ohne Worte. Sie war die Cello-Pionierin, die den Weg, das Cello zu einem ebenso „weiblichen“ wie „männlichen“ Instrument zu machen, beschritt.
„Dies sind die Früchte der Frauenemanzipa­tion!“ Die Allgemeine Wiener Musikzeitung von 1844 war über die Erscheinung dieser Cellistin sehr aufgebracht und vermutete einen Zusammenhang mit den Veränderungen, die seit der französischen Revolution mit ihrer Forderung nach Freiheit und Gleichheit auch den Status der Frauen in der Gesellschaft betrafen. „Eine Violoncellistin, welche in Paris und Brüssel Concerte gegeben, ist nebenbei ein Apostel der Frauenemanzipa­tion, treibt also zwei Geschäfte, von denen das eine das andere unterstützt“, kommentierte die Berliner Musikalische Zeitung im selben Jahr. 1792 hatte Mary Wollstonecraft mit ihrem Buch A Vindication of the Rights of Women „erstmals das Gedankengut der Aufklärung konsequent auf die Stellung der Frau“ bezogen.8 Darin verteidigte sie die Rechte der Frauen u. a. gegen Jean-Jacques Rousseaus Theorie „der weiblichen Inferiorität“.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde die nächste weichenstellende Generation von Cello-Pionierinnen geboren: Guilhermina Suggia, May Mukle und Beatrice Harrison. Auch hier spielen mit Sicherheit gesellschaftliche und politische Veränderungen eine Rolle. Mit der Weimarer Republik erhielten die Frauen das Wahlrecht und die Gleichberechtigung wurde in der Verfassung verankert. Die 1920er Jahre brachten auf dieser Grundlage ein freiheit­liches Denken, besonders was die „neue Selbstverständlichkeit einen Beruf auszuüben“9 anging. Dies war der Hintergrund für ein neues Selbstverständnis von Künstle­rinnen. So konnten Cellistinnen wie Suggia, Mukle und Harrison in ihren Lebensentwürfen und Karriereplanungen ihre Verhaltensspielräume stärker erweitern, als es Cristiani möglich gewesen wäre. Lisa Cristiani hatte noch ein „weithinwallendes Kleid [getragen], wodurch alle Contouren des Körpers verschleiert werden“,10 um dem „an sich Unschönen Form zu geben“11 und nicht „frivol“12 zu wirken. Guilhermina Suggia konnte bereits selbstbewusst sagen: „To be on the stage is to communicate with the whole body and not only with the cello.“13 Und Julius Klengel sagte über seine Studentin: „She is a cellist with the highest artistic merit, who has no reason to fear comparisons with cellists of the masculine sex.“14
Die Frage, ob eine Frau an diesem „unweiblichen“ und großen Instrument tatsächlich das Gleiche wie ein Mann leisten könne, war also zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus noch im Raum; so schrieb ein Kritiker über Suggia: „Ihr Klang war von einer männlichen Kraft, wie man ihn nur selten von einer Cellis­tin zu hören bekommt.“15 Eine entscheidende Veränderung ist zu beobachten, die mit jeder Generation von Cellistinnen einen Schritt in Richtung Gleichberechtigung macht.
Die 1960er und 70er Jahre bilden mit der Studentenbewegung und der zweiten Frauenbewegung die nächste Etappe. In diese Zeit fällt Jaqueline du Prés (1945-1987) spektakuläre Karriere. Sie ist die einzige Frau, die auf die Frage nach einer bedeutenden Cellistin sofort genannt wird. Mit ihr beginnt eine Entwicklung, die man als „Cello-Boom“ bezeichnen könnte. Das Instrument wird bei Mädchen und Jungen populär wie nie zuvor, die Klassen an den Musikhochschulen vergrößern sich.
Herbert von Karajan hatte noch 1979 geäußert, Frauen gehörten „in die Küche, nicht ins Orchester“.16 Damals spielten bei den Berliner Philharmonikern nur Männer – ein Zustand, um den die Wiener Philharmoniker bis heute kämpfen. Wenige Jahre später, 1983, schien Karajan davon nicht mehr so überzeugt zu sein: Er verpflichtete die Klarinettistin Sabine Meyer als zweite Frau (vor ihr 1982 als erste Frau die Geigerin Madeleine Carruzzo) für die Berliner Philharmoniker. Von da an kann man eine sehr positive Entwicklung beobachten. In deutschen Or­ches­tern ist das Verhältnis Frauen/Männer heute viel ausgeglichener. Blechblasinstrumente, Schlagzeug und Kontrabass gehören jedoch immer noch vorwiegend zur männ­lichen Domäne. Argumente wie: „Frauen könnten niemals wirklich gut auf dem Kontrabass werden, da sie nicht genug schwitzten“ oder „Frauen könnten nicht Trompete spielen, da die Gebärmutter keinen Platz für einen Resonanzraum ließe“,17 halten sich in diesem Bereich noch etwas hartnäckiger, werden aber kaum noch wirklich ernst genommen.
Wenn man den Wandlungsprozess, der die Cellistinnen betrifft, beobachtet, gibt es Grund anzunehmen, dass alle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die freies Musikmachen und künstlerische Expansionsmöglichkeiten einschränken, keineswegs ­natürlich, sondern konstruiert sind. Mit der „Natur“ zu argumentieren, führt zu scheinbarer Unwiderlegbarkeit. Aber warum ist die Harfe ein „weibliches“ Instrument? Sicher nicht, weil sie schwer zu transportieren ist oder weil die Saiten so hart sind, dass Harfenistinnen Blasen und dicke Hornhäute an den Fingern bekommen.
Das Beispiel der Cellistinnen bietet für den künstlerischen, wissenschaftlichen und pä­da­gogischen Bereich die Chance, auf gesellschaftliche Prozesse aufmerksam zu machen: Zuschreibungen sind nicht naturgegeben, sondern veränderbar! Wo uns das Argument der „Natur“ entgegentritt, sollte man zurückgehen zur Entstehung dieses Paradigmas. Gerade die Natur und die Definition von weiblichen und männlichen Sphären diente im 19. Jahrhundert einem sozialen und politischen Interesse – dem Erhalt einer neuen Arbeitsteilung.18
Wie Musik produziert, gelehrt und rezipiert wird, in welcher Art und Weise über Musik und Musizieren gesprochen wird, ist gerade für den pädagogischen Bereich eine entscheidende Frage. Eine wichtige Rolle spielen dabei Vorbilder. Sich eine Cellistin zum Vorbild zu nehmen, so Maria Kliegel, auf die Idee wäre sie nie gekommen: „Es hätte ja keine gegeben…“.19 Die Instrumentenwahl von Kindern und die Planung beruflicher Biografien bei Jugendlichen ist auch von der Identifizierung mit Lehrpersönlichkeiten und Vorbildern beeinflusst. Je mehr Vorbilder verschiedenster Instrumente und Musikbereiche es gibt, desto freier können Lernprozesse gestaltet werden. Ein Hinterfragen von vorgegebenen Bildern über Geschlechterverhältnisse, Lernprozesse und über die Musikgeschichte ermöglicht freiheitliches und flexibles Denken. Und das bedeutet, künstlerischer Kreativität in den verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft neue Chancen zu geben.

1 Otto Gumprecht: Neue musikalische Charakterbilder, Leipzig 1876, 1. Kapitel: Die Frauen in der Musik, S. 34; zitiert nach Eva Rieger: Frau, Musik und Männerherrschaft, Kassel 21988, S. 219.
2 vgl. Margaret Campbell: The Great Cellists, London 1988, S. 208.
3 Daniela Kohnen: „Ein weiblicher Casals. May Mukle (1880-1963), die erste britische Konzertcellistin“, in:
das Orchester 7-8/1999, S. 19-22.
4 Carl Ludwig Junker: Vom Kostüm des Frauenzimmer Spielens (1783), zitiert nach Freia Hoffmann: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt am Main 1991.
5 Junker, zitiert nach Hoffmann, S. 31.
6 ebd., S. 30.
7 vgl. Klaus Marx: Artikel: Violoncello, in: Sadie Stanley (Hg.): The New Grove Dictionary, Oxford 1985, Sp. 805-814, hier: Sp. 810.
8 Therese Frey-Steffen: Gender, Leipzig 2006, S. 31.
9 ebd., S. 98.
10 Allgemeine Musikalische Zeitung 1846, Sp. 289 f., Konzerte in Berlin; zitiert nach Hoffmann, S. 61.
11 Neue Zeitschrift für Musik 1845 II, S. 132; zitiert nach Hoffmann, S. 198.
12 Allgemeine Musikalische Zeitung 1846, Sp. 289 f., Konzerte in Berlin; zitiert nach Hoffmann, S. 61.
13 Anita Mercier: Artikel: Guilhermina Suggia, www.cello.org/Newsletter/Articles/suggia.htm, S. 7 (Stand: 6.3.2009) .
14 Mercier, S. 4.
15 Robert Baldock: Pablo Casals. Das Leben des legendären Cellovirtuosen, München 1994, S. 84.
16 Herbert von Karajan, 1979 auf einer Pressekonferenz.
17 Annette Kreutziger-Herr/Wilfried Bönig (Hg.): Die 101 wichtigste Fragen. Klassische Musik, München 2009,
S. 127.
18 vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt am Main 1977; vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1992.
19 Katharina Deserno: „Ein Blick auf die Geschichte der Cellistinnen“, in: Ruth Becker/Renate Kortendieck (Hg.): Journal Netzwerk Frauenforschung Nr. 24/November 2008, S. 38.

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