© Maria Behrens

Behrens, Maria

Eine Vision wird Wirklichkeit

Die Musikschule A.M.E.M. in Burkina Faso

Rubrik: Musikschule
erschienen in: üben & musizieren 2/2021 , Seite 38

Wie kann das gehen, in einem der ­ärmsten Länder der Welt aus dem Nichts eine Musikschule zu gründen? Aus sporadischem Unterricht mit einer einzigen Geige für 200 Kinder entwickelte sich die Idee für meine eigene Musikschule mit zahlreichen europäischen und afrikanischen Instrumenten.

Nach meinem Schulmusik-Studium mit Hauptfach Violine an der Hochschule für Musik Detmold und Referendariat an einem Gymnasium arbeitete ich 2015 in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, als Lehrerin an einer Grundschule. Eher zufällig hatte ich eines Tages meine Geige mit in der Schule und spielte den Kindern etwas vor. Die Begeisterung der Kinder für Musik und vor allem für die Geige war immens – das Leuchten in ihren Augen beim Klang der Geige unbezahlbar. Ich hatte den Eindruck, dass die Kinder das Fremde dieses Instruments sehr reizt. Manche Kinder kannten die Geige schon aus dem Fernsehen, die meisten aber hatten sie noch nie zuvor gesehen oder gehört.
Um alle diese Kinderaugen zum Leuchten zu bringen, unterrichtete ich alle 200 Kinder der Grundschule auf einer einzigen Geige – meiner Geige, die mich seit 2012 treu nach Burkina Faso begleitet. Jedes Kind durfte nun zehn Minuten auf meiner Geige spielen. Währenddessen reifte die Idee für mein Projekt heran: eine Musikschule für die Kinder in Ouagadougou, um es nicht bei diesen zehn Minuten zu belassen, sondern um jedem Kind einen Zugang zur Musik zu ermöglichen.

Anfänge

Zunächst war es wichtig, Sponsoren zu finden. Eine Spende des Rotary Club Detmold (Distrikt 1900) ermöglichte, Geigen, Ukulelen, Blockflöten, Boomwhackers, Noten und Zubehör zu kaufen. Vor Ort war es notwendig, einen Verein zu gründen, um offiziell Musikunterricht erteilen zu dürfen. So entstand in eineinhalb Jahren gemeinsam mit Freunden und viel Zeit, Geduld, Gesprächen, Höhen und Tiefen die Association Musicale pour les Enfants du Monde (A.M.E.M.), parallel zu dem in Detmold gegründeten Förderverein der Musikschule Ouagadougou A.M.E.M. e. V. Darüber hinaus mietete ich am Stadtrand von Ouagadougou ein kleines Haus mit zwei großen Unterrichtsräumen und einem kleinen Zimmer für mich zum Wohnen, um dort die Musikschule aufzubauen.
Seit der Gründung im April 2018 haben sich die anfänglich wenigen Geigen und Ukulelen mittlerweile durch die großzügige Unterstützung des Rotary Clubs in Detmold und durch viele private UnterstützerInnen zu einem umfangreichen Inventar an Musikinstrumenten erweitert: 47 Geigen, 15 Celli, 18 Ukulelen, 13 Gitarren, acht Keyboards, viele Alt- und Blockflöten, drei Posaunen, drei Trompeten, zwei Baritonhörner, zwei Klarinetten, Boomwhackers, vier Koras (traditionelle westafrikanische Stegharfen), sechs Ruudgas (westafrikanische Geigen) und traditionelles westafrikanisches Schlagwerk wie Balafone, Djemben und Doum-Doums befinden sich nun in unserem Bestand.
Mitte 2019 zog die Musikschule mit wachsender Schülerzahl in ein größeres Gebäude. Momentan erhalten 46 Kinder (26 Mädchen und 20 Jungen) Unterricht auf Ukulele, E-Bass, Gitarre, Keyboard, Djembe, Calebasse, Violine, Violoncello, Posaune und Blockflöte.

Grundidee und Programm

Unser Ziel ist, möglichst viele Kinder aus ärmeren Verhältnissen aufzunehmen. Etwa zwei Drittel unserer SchülerInnen haben nicht genügend Geld, um den Musikunterricht bezahlen zu können. Mithilfe unseres Patenprogramms konnten wir jedoch bereits 19 Patenkinder vermitteln, die kostenlos am dreimal wöchentlich stattfindenden Musikunterricht teilnehmen. Am Wochenende bleiben die Kinder sogar den ganzen Tag in der Musikschule und erhalten eine warme Mahlzeit: Am Samstag kochen die älteren Kinder und alle essen gemeinsam, wie in einer Familie.
Eine weitere Besonderheit unserer Musikschule ist, dass Instrumente aus verschiedenen Kulturen aufeinandertreffen. Auf keinen Fall möchte ich ausschließlich die europäische Musikkultur nach Burkina Faso bringen, sondern ich versuche, die beiden Kulturen zu verbinden: Oft spielen meine SchülerInnen klassische Stücke auf der Geige, die vom Keyboard und einer Djembe begleitet werden – eine Begegnung von abendländischer Klassik mit afrikanischen Rhythmen. Oder sie spielen die Nationalhymne von Burkina Faso auf der Geige. Bei der Ukulele ist es ähnlich: Sie spielen eine Folge von Akkorden, die GeigenschülerInnen spielen Stimmen und Soli und ich improvisiere dazu auf der Geige, begleitet von Djembe und Calebasse. 20 Minuten lang eine Akkordfolge auf der Ukulele zu spielen, scheint die Kinder nicht zu langweilen. Im Gegenteil: Für sie ist das Musizieren auf den dort sehr seltenen, fast exotischen Instrumenten eine Ehre, die sie ernst nehmen. Sie sind neugierig, gewissenhaft, motiviert und haben eine unbändige Freude, in der Gruppe Musik zu machen.
Zu unserer Leitidee gehört auch, das Lehren möglichst in afrikanische Hände zu geben, um für das Fortbestehen der Musikschule zu sorgen. So umfasst das Team acht Lehrende, von denen die meisten aus Burkina Faso stammen. Zu unserem festen Programm gehören zudem Ferienkurse mit europäischen MusikerInnen. Ein großer Gewinn für beide Seiten: Die Freiwilligen erleben eine besondere Unterrichtssituation mit hochmotivierten Kindern, die eine unstillbare Wissbegierde in sich tragen, und die Kinder bekommen die Chance, etwas für sie völlig Neues und in Burkina Faso Ausgefallenes zu lernen. In diesem Zusammenhang steht auch unser Traum, mit unserem Orchester im Rahmen eines Austauschs nach Deutschland zu reisen.
Über die instrumentalen Angebote hinaus ergänzen weitere Lehrende das Programm mit Tanz, Theater und Bildender Kunst, da unser Ziel eine ganzheitliche Bildung ist. Wir möchten den Kindern die (kulturelle) Welt aus möglichst vielen Perspektiven nahebringen. Ein wichtiger Ort ist zudem unsere neue Schulbibliothek mit vielen gespendeten Kinder-, Jugend- und Sachbüchern. Darüber hinaus bieten wir Workshops zu Themen wie Instrumentenkunde, Bau von traditionellen Musikinstrumenten, Instandhaltung und Reparatur von Instrumenten, aber auch zu den Bereichen Kochen, Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Umweltschutz, Frauen- und Familienrecht und Berufsfindung.

Schüler als Lehrende

Auch SchülerInnen, die bereits ein gutes musikalisches Niveau erreicht haben, agieren an unserer Musikschule als Lehrende. Da sie ihr in der Musikschule erworbenes musikalisches Wissen und Können an die AnfängerInnen weitergeben, findet hier informelles Lernen statt – eines meiner Ziele für unsere Musikschule.
Die Chancen informellen Lernens bestätigten sich, als ich von meiner coronabedingten Abwesenheit Ende September wieder nach Ouagadougou zurückkam. So traf ich auf eine Ukulelen-Schülerin, die selbstbewusst Geige spielte, beinahe auf dem Niveau meiner fortgeschrittenen Schülerinnen. Während meiner sechs Monate in Deutschland hatte sie von ihrer Freundin, meiner langjährigsten Geigenschülerin, Unterricht bekommen. Mit einer großen Selbstverständlichkeit und Einfachheit hat sich so der Unterricht von Schülerin zu Schülerin verwirklicht und darüber hinaus den jungen Lehrenden eine ungeheure Selbst­sicherheit sowie Bestätigung gegeben, ein wichtiger Teil der Musikschule zu sein.
Während des Schulalltags sind die „SchülerlehrerInnen“ eine große Hilfe, denn ich allein könnte unseren GeigenschülerInnen gar nicht mehr gerecht werden – einerseits wegen der großen Anzahl, andererseits wegen des unterschiedlichen Niveaus. Dank der „SchülerlehrerInnen“ können wir mehrere Gruppen bilden und inzwischen gestaltet sich der Unterrichtsalltag so, dass alle meiner älteren SchülerInnen eigene AnfängerschülerInnen haben. Als Mentorin stehe ich natürlich jederzeit zur Seite und beobachte ihren Unterricht, damit sich die AnfängerInnen nichts Falsches angewöhnen.
Diese jungen LehrerInnen haben selbst von Anfang an kostenlosen Unterricht von mir erhalten – eine Bezahlung für ihren Unterricht würden sie in ihrer Bescheidenheit also keinesfalls annehmen, denn für sie ist ihre Mithilfe selbstverständlich. Oft unterstützen wir sie mit Materialien für die Schule oder mit Kleidung für sie und ihre Familie.
Die Kinder scheinen keine ausgeklügelte Methodik und Didaktik zu brauchen, um Motivation zum Lernen zu erhalten. Wenn sie ein Stück hören, das die älteren SchülerInnen spielen, ist der Wille, es auch zu spielen, unmittelbar da und es genügt ihnen, genau zu beobachten, wann welcher Finger die Saite auf den Markierungen herunterdrückt, um es nachzuspielen. Wir verwenden im Unterricht daher überwiegend die Methode des Lernens am Modell. Dies ist zudem wegen sprachlicher Barrieren oft ein Vorteil – die Unterrichtssprache ist zwar die Amtssprache Französisch, jedoch kommt es manchmal vor, dass die ganz kleinen SchülerInnen noch nicht ausreichend Französisch verstehen, um meinen Erklärungen folgen zu können. Auch Noten lesen können nur die fortgeschrittenen GeigenschülerInnen – für die AnfängerInnen schreibe ich daher die Stücke in Zahlen und vier Farben für die vier Saiten der Geige an die Tafel.

Erstes klassisches Kinder­orchester in Burkina Faso

Mit der Gründung der Musikschule habe ich recht schnell ein Orchester mit ehrgeizigen Kindern aufgebaut. Dieses Orchester, das wir „Kamba de A.M.E.M.“ („Kamba“ bedeutet in der Landessprache Mooré „Kinder“) getauft haben, besteht momentan aus elf Kindern, die von Anfang an eine kostenlose musikalische Ausbildung erhalten haben.
Die Idee dieser Zusammensetzung ist ein Aufeinandertreffen von Instrumenten aus verschiedenen Kulturkreisen: vier Geigen, zwei Ukulelen, Cello, Keyboard, Ukulele-Bass, Djembe und Calebasse, was einen ganz neuen, in Burkina Faso unbekannten Zusammenklang ergibt. Die Nationalhymne von Burkina Faso, die außerordentlich verehrt wird, hat diese Gruppe bereits in den größten Konzertsälen der Hauptstadt Ouagadougou, bei den bekanntesten Festivals, bei offiziellen Anlässen und live im Fernsehen gespielt. Das Lob und die Anerkennung, welche ihnen von hohen Führungskräften wie Botschaftern, Bürgermeistern, Ministern und Ministerinnen sowie tra­ditionellen Chefs zuteil wird, lässt das Selbstbewusstsein der SchülerInnen sichtlich wachsen. Denn diese jungen Menschen, die aus einfachen und bescheidenen Verhältnissen kommen, beherrschen etwas, das ihnen in ganz Burkina Faso keine noch so hohe und wichtige Person gleichtun kann: mit der Nationalhymne auf der Geige das eigene Land repräsentieren.
Im August 2018 haben die jungen MusikerInnen nach zwei Monaten intensiven Probens ihre erste CD aufgenommen – eine unvergessliche Erfahrung. Das Ergebnis ist die CD Faso Futur, die sowohl europäische als auch afrikanische Klänge vereint und auf unserer Webseite bestellt werden kann: Geigen treffen auf eine Kora; Ukulelen werden von Djembe und Calebasse rhythmisch unterstützt und Boomwhackers und Shaker rahmen das musikalische Produkt auf experimentelle Weise ein.

 

Herausforderungen in Ouagadougou und Detmold

Unsere Musikschule ist auf Spenden angewiesen. Die Miete des Gebäudes, Strom und Wasser, Mittagessen für die Kinder, Gehälter für die Lehrenden, Instandhaltung der Instrumente und des Gebäudes sowie Materialien für den Kunstunterricht sind nur ein Teil unserer monatlichen Kosten, die wir mit Spendengeldern bezahlen. Nur so können unsere SchülerInnen weiterhin eine kostenlose musikalische Ausbildung erhalten. Unser Projekt kann zum Beispiel durch eine Mitgliedschaft im Förderverein der Musikschule Ouagadougou A.M.E.M. e. V. unterstützt werden. Wir freuen uns über jede Mithilfe.
Was den Streichinstrumenten in Ouagadougou sehr zu schaffen macht, ist das ext­reme Klima: Von Mai bis September regnet es oft in Strömen. Durch die hohe Feuchtigkeit löst sich der Leim an den Instrumenten. Den Rest des Jahres ist es heiß und trocken. Der Wechsel zur Trockenzeit führt wiederum dazu, dass die Wirbel so festsitzen, dass sie sich nicht mehr drehen lassen. Zudem weht der Sand aus der Sahara umher, sodass sich auf den Instrumenten und im gesamten Gebäude ein Sandfilm absetzt. Es ist daher unabdingbar und auch sehr zeitaufwändig, die Instrumente regelmäßig zu putzen, instandzuhalten und zu reparieren. Aber auch daran haben die Kinder große Freude.

Fazit

Es ist erstaunlich und wunderbar zugleich, wie die Musik die Augen der Kinder zum Leuchten bringt und wie aus einer kleinen, schüchternen Sechsjährigen, die nur mit Mühe ein Wort über die Lippen bekam, eine junge Frau wird, die weiß, was sie will und nun eine Spur selbstbewusster durchs Leben gehen kann. In der patriarchalischen Gesellschaftsstruktur Burkina Fasos ist besonders für Mädchen die Förderung des Selbstbewusstseins eine ungemein wichtige, wenn auch nur selten geförderte Eigenschaft. Zu erfahren, dass sie etwas wert sind, dass sie etwas Besonderes leisten können – wie zum Beispiel Geigenspiel –, ist ein wichtiger Nebeneffekt unserer Arbeit.
Das Projekt, das ehemals mit einer einzigen Geige angefangen hat, wächst nun stetig und weitet sich auf viele Instrumente verschiedener Kulturen aus. Die intensive Arbeit und die unglaubliche Energie zahlen sich aus: Für mich und die anderen Lehrenden ist es das größte Glück, unsere SchülerInnen auf der Bühne zu sehen.

Informationen und Kontaktadressen zur Musikschule A.M.E.M in Ouagadougou: www.amem-ouaga.org

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 2/2021.